Traubiges: Der blaueste aller Engel

Merlot Reserva 2009 – Alto de la Ballena

 

Foto: Leonardo Correa

Mein Freund,

es ist lange her, dass wir miteinander gesprochen haben. Du bist weit weg. Wann haben wir uns zuletzt gesehen? Das ist eine Ewigkeit her. Damals waren wir kleine rotzige Rebellen und haben der engen Welt um uns herum den Mittelfinger gezeigt. Wir waren wie Tim und Struppi, mehr Wickie als Winnetou, mal Captain Kirk und Mister Spock, mal Herr Rossi und Gastone, Kleinstadtkrokodile – eher Peter Pan als Supermann.

Noch lieber würde ich mit dir tanzen gehen, als nur zu reden. In den Straßen tanzen zu Candombe, Axé und Samba. So wie damals. Mit einer Flasche Bier in der einen Hand und etwas zu rauchen in der anderen. Wie gerne würde ich spüren, wie die Kraft der Trommeln in meine Mitte fährt, von dort in Wellen in meine Arme und Beine schießt, und wie der Rhythmus ganz von mir Besitz ergreift. Tanzen mit geschlossenen Augen. Wenn ich sie öffne, dann nur um dein breites Grinsen zu sehen, das nie endet.

Kannst du mich jetzt hören? Dann setz deine Krone auf und geh raus! Tanz drauf los, egal wo du jetzt bist. Spür die Sommerhitze, die aus den Straßen nach oben steigt und sich mit dem Rhythmus in dir verbindet. Tanz drauf los und werde eins mit der Musik.

Du bist mein Bruder, mein Held, der blaueste aller Engel. Der, der selbst dann noch aufrecht weitergeht, wenn das Feuer in ihm nur noch als leise Glut glimmt. Stark wie kein anderer. Stärker als jede Distanz, stärker als der Tod. Ein Baum von einem Mann, der weiseste aller Hofnarren und sanfter als jede Katze.

Ich kann nicht still sitzen, wenn ich an dich denke. Ich stehe auf und spüre die Erinnerung an diese Zeit in jeder Faser meines Körpers. Nichts lenkt mich davon ab. Nichts? Ok. Da steht eine Flasche Merlot, die mich ebenso an dich erinnert, wie die Musik und das Tanzen in den Straßen. Dieser Wein hat ebenso eine Energie wie die Gedanken an deinen aufrechten Gang.

Ich fülle mein Glas und betrachte es. Unfassbar, dieses Granatrot, die tiefblauen Reflexe. Unglaublich sein Bukett, Pflaumen und Kirschen mit Zimt-, Vanille- und Tabaknoten, Schokolade und ein Hauch Eichenholz. Filigran und tiefgründig. Der erste Schluck, so kraftvoll wie der Klang der Trommeln. Ein feines Wechselspiel von Frucht, Tanninen und Säure. Sein Nachhall, so unendlich wie dein Grinsen.

Noch ein Schluck, ein extra großer, in dankbarer Erinnerung. Ein weiterer voller Nostalgie. „Wahre Stärke zeigt sich nicht darin, wie sehr wir uns gegen die Achterbahn des Lebens schützen können“, hast du mal gesagt. „Wahre Stärke ist die Fähigkeit, erschüttert und zerrissen zu werden, und trotzdem aufrecht zu stehen. Mit dem Kopf zwischen den Schultern, den Blick in alle Richtungen, empfindsam und in das Leben verliebt.“

Ich denke an dich, du blauester aller lauten Engel. Wir sind die Freunde, die sich nie verabschieden.

Ich fülle mein Glas noch einmal und erhebe es. Auf dich.


Lars Borchert
Über den Autor: Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er auf caiman.de jeden Monat mit Beiträgen über Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika.