São Paulos rote Meilen – der „boca do lixo“

Ihr seid in São Paulo und verspürt Lust auf sündige Großstadtabenteuer? Morbide Zerfallszenarien faszinieren euch, die Gefahr verursacht ein neugieriges Kribbeln? Herzlichen Glückwunsch, ihr befindet euch an genau dem richtigen Ort. Vergeßt Rio de Janeiro, die Copacabana mit ihrem Rotlichtviertel rund um die Praça do Lido – der wahre Kenner schwört auf „Sampas” bizarre Vergnügungswelt, in der oft Glanz und Elend dicht beieinander liegen.

Die finanziell Bessergestellten begeben sich in die Rua Augusta, die die Stadtteile Consolação und Bela Vista miteinander verbindet. Dort findet man teure Saunas mit ebensolchen Prostituierten. „Die Frauen der Rua Augusta sind die schönsten ganz Brasiliens”, erzählt ein Geschäftsmann aus Madrid, der seit 5 Jahren in der 20-Millionen-Metropole lebt und sich in dieser Zeit einen Überblick verschafft hat. „Man muss halt nur das entsprechende Kleingeld haben.” Auch Gay-Saunas gibt es in dieser Gegend, wie das „Holyday”, eine der ältesten Saunas von São Paulo.

Ebenso „nobel“ geht es in der Av. Indianápolis zu, in den Stadtteilen Indianápolis, Ibirapuera und Planalto Paulista gelegen. Weder Käfer noch VW Brasília beherrschen die Szenerie, vielmehr sind es die Söhne aus reichem Haus mit ihren fetten BMW`s oder Vectras. Sie zahlen gut, bis zu 40 Reais (ca.50 DM) für Sex im Auto oder 50 Reais in einem Motel – bevorzugt mit Transvestiten. Aber sie können auch gefährlich werden, einen Transvestiten „aus purer Lust und Laune” misshandeln oder sogar totschlagen

„Die einfachste Art, heutzutage in Brasilien Geld zu verdienen, ist mit Sex. Und die am besten verdienen, sind die aktiven Transvestiten. Nahezu 90% der Kundschaft sind passiv, Opfer einer machistischen Erziehung,” erklärt Adriano, 27 Jahre alt, der auf der Strasse Propaganda für ein Pornokino im „boca do lixo”, São Paulos sündigster Meile, macht.

Der „boca do lixo“ befindet sich im Zentrum von São Paulo, rund um die Praça da República, dort, wo einst die High-Society der Stadt residierte. Heute warnt jeder Reiseführer davor, sich nachts in diesem Viertel aufzuhalten. Dunkle Gestalten, Drogenhändler, Zuhälter oder beides in einer Person, die Straßen voll Dreck und Müll – die Gegend erweist ihrem Namen alle Ehre. . „Boca do lixo”, das bedeutet so viel wie „Müllmaul” – ein faszinierender Ort, an dem man alles findet, was „anrüchig” ist: die Freudenhäuser, die Pornokinos, die von Pornoheften überquellenden Zeitungskioske, die Striplokale, Erotikshows mit Live-Sex auf der Bühne, die Transvestiten und die Drogenhändler von „cracolândia”.

„Cracolândia” ist die Region nordöstlich der Praça da República, aufgeteilt unter mehreren Gangs, unter ihnen die Nigerianer aus der Rua Guaianazes, die ihren afrikanischen Stammesdialekt als Geschäftssprache beibehalten haben. Ab und zu taucht ein Trupp der DENARC (Departamento de Narcóticos / Drogenpolizei) auf, aber in der Regel mischt sich die Polizei nicht großartig in die Geschäfte des „boca do lixo” ein.

Hier lebt und arbeitet Adriano, der sich selbst als „gewöhnlicher Schwuler, der sich als Frau verkleidet”, bezeichnet. Sein weiblicher Name ist „Salete Dum Dum” (Dum Dum ist eine Bezeichnung für Schwarze). Aber er ist weder ein Transsexueller noch ein Transvestit, wie Adriano erklärt. „Die Transsexuellen fühlen sich wie richtige Frauen und leben deshalb auch diese Realität vollkommen aus. Transvestiten haben ihren Körper mit Silikon ausgebessert und kleiden sich als Frau nur, um Geld zu verdienen. Danach ziehen sie ihre Männerklamotten wieder an und gehen nach Hause.”

Innerhalb des Porno-Kinos, in dem er arbeitet, ist Salete die „Mafiosa”, die alles dirigiert und darauf achtet, dass nicht zu viele Schwule das Kino frequentieren, was die Heteros abschrecken würde. Die Schwulen haben ihre eigenen Kinos, ausschließlich für Schwule, wie das „Estúdio Aurora” und das „Cine República”. Der „boca do lixo” ist voll von Kinos der verschiedensten Art, zum Großteil an der Av. São João und an der Av. Ipiranga gelegen, jenem Ort, dem Caetano Veloso sein Lied „Sampa” gewidmet hat: „Alguma coisa acontece no meu coração, que só quando cruza a Ipiranga e a Avenida São João, é que quando cheguei por aqui, eu nada entendi…”

Neben den Schwulenkinos findet man hier auch die, in denen sich die Transvestiten anbieten, wie das „Cine América”, das „Arte Palácio” und den „Palácio dos Cinemas”. Sie verlangen 5 Reais für Oralsex und 10 Reais für das komplette maximal 5 minütige Programm.

Im „Cine Las Vegas”, dem ”Cine Saci”, dem „Cine Globo” und dem „Cine Windsor” sieht man Männer im Kinosaal auf und ab gehen, auf der Suche nach jemandem, mit dem sie zum heterosexuellen Porno Sex haben können.

Sehr selten trifft man an diesen Orten Frauen, die Kinos des „boca“ sind fast eine reine Männerwelt. Eine Ausnahme bildet das „Cine Cairo”, wo es Prostituierte für 17 Reais gibt.

Das „Cine Texas” ist das einzige, das sich dem „Gesetz gegen die Verletzung der öffentlichen Ordnung” unterwirft, demzufolge Sex in Kinos verboten ist.

Dieses Gesetz, das unter anderem Sex, Nacktheit und Urinieren auf öffentlichen Plätzen verbietet, nimmt „polícia militar“ zum Anlass, in äußerst aggressiver Weise gegen die Transvestiten der Av. Indianápolis vorzugehen.

Sie werden geschlagen, ihres Geldes beraubt, auf`s Revier gebracht und dort festgehalten, bis die entsprechenden Zuhälter sie am nächsten Tag „freikaufen“.

Im Gegenzug bezahlen Prostituierte und Transvestiten an diese für ihren Platz auf der Freiermeile. Die Rua Sta. Ifigênia, die Av. Ipiranga und die Av. Rio Branco sind den Prostituierten, die Rua Amarel Gurgel den Transvestiten vorbehalten. Die Striptease- Lokale und Live-Sex-Lokale befinden sich auf der Av. Ipiranga, der Rua Nestor Pestana und der Rua Bento Freitas.

„Hier im boca sieht man unglaubliche Dinge, man kann es sich nicht vorstellen,” erzählt Salete. „Hin und wieder kommt ein Ehepaar in das Kino. Die „gaviões” („Jagdvögel”), an der Tür auf Beute lauernd, setzen sich neben das Paar. Die Ehemänner mögen es oftmals, einfach nur zuzusehen, wie ihre Frauen von den ”gaviões” vernascht werden. In unseren beiden angrenzenden dark-rooms sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Hier vergnügen sich unsere Kunden beim Oral-, Anal- oder Vaginalsex, während andere einfach nur in Ruhe einen Joint rauchen oder Drogen schnüffeln wollen.”

In Zukunft möchte Salete entweder Tourismus studieren oder eine Fernsehshow moderieren. Ein Sender hat bereits sein Interesse bekundet, noch aber lebt Salete sein Leben als Schwuler mehr oder weniger anonym. Sein Vater ist Polizeikommissar. „Wahrscheinlich weiß er, dass ich schwul bin. Aber wir haben niemals darüber gesprochen.”

Im boca zu arbeiten, empfindet er als eine Art Reise. „Viele Kunden erzählen mir aus ihrem Leben, von ihren Problemen, von Arbeitslosigkeit. Sie weinen an meiner Schulter und setzen mich an die Stelle ihrer Freundin oder Ehefrau. Gestern nannte mich ein passiver Kunde „Márcia”, als ob ich seine Ehefrau sei, die es nicht mehr mit ihm treibt – was für eine absurde Geschichte!”

Aber nur eine von vielen, die der ”boca do lixo” zu erzählen hat.