Elvis Presley und der Cobra-Mann

O Nordeste não existe,
O Nordeste é ficção
(Belchior)

Der Nordosten existiert nicht,
der Nordosten ist Fiktion
(Belchior – ein brasilianischer Sänger mit Flugangst)Wer sagt, dass Reisen durch die Zeit unmöglich seien und nur in den Köpfen verrückter Schriftsteller existierten, der hat nichts verstanden von der Welt.

Die Vorstellung, dass die Welt im Gleichtakt schlägt, verflüchtigt sich umgehend, wenn man dem modernen, mit air-condition ausgestatteten, Reisebus entsteigt, der luftgefedert über die Schlaglöcher des brasilianischen Nordostens dahinschwebt.

Und so stehe ich punktgenau im Nirgendwo, die Augen verquollen vom Schlaf, fröstelnd in der kühlen Morgenluft des herein brechenden Tages.

Der einzige Lichtpunkt in dieser ansonsten vollkommenen Dunkelheit ist die Neonröhre der ärmlichen Busstation.

Aus den übersteuerten Lautsprechern dringt der unvermeidliche Forró (typischer Musikstil des Nordostens): „Cachaça e mulher bonita é a minha perdição…“ (Zuckerrohrschnaps und schöne Frauen sind mein Untergang). Ob der Bus, der mich in die nächste Stadt bringen soll, auch wirklich hier vorbeikäme, frage ich den Mann hinter dem Tresen.

„Ja, in ungefähr drei Stunden kommt er hier vorbei!“ Mehr wird er in den nächsten Stunden nicht mehr von sich geben; Stunden, in denen ich an seinem Tresen weile und ein pastel, Mehlteig gefüllt mit Hühnerfleisch, nach dem anderen verdrücke und warte, dass die von mir bestellte Coca gelada, die gefrorene Cola, endlich auftaut.

Genug Zeit nachzugrübeln über diese seltsame Gegend und ihre Fremden gegenüber argwöhnischen Bewohner.

Da gibt es den „homem-da-cobra“, den Cobra-Mann, den ich auf dem Marktplatz einer kleinen Stadt sah. Schuh- und zahnlos sprang er wild gestikulierend und die Arme in die Luft werfend um eine kleine Holzkiste herum. Dabei redete er ununterbrochen auf die in einem Halbkreis um ihn stehenden Menschen ein. In dem Holzkasten, so versicherte er lautstark, sei eine gefährliche Cobra, die er unter Einsatz seines Lebens eigenhändig gefangen habe. Er bat die Umstehenden um ihre Gebete und ein Paar Groschen, die ihm Mut geben sollten, und steckte unversehens seine rechte Hand in den Kasten. Ein Aufschrei des Entsetzens ging durch die Menge. Nach ein paar Sekunden, in denen sich Schweißtropfen auf seinem angstverzerrten Gesicht gebildet hatten, zog der Cobra-Mann seine Hand wieder aus dem Kasten hervor und streckte sie triumphierend den überwältigten Zuschauern entgegen. Welch ein Wunder! Er lebte noch!

Und niemand kam in Anbetracht des Heldentums dieses Mannes auf die Idee, in die Kiste zu gucken!

Um die Cobra ranken sich wilde Geschichten und viel Aberglaube. Die Menschen des Nordostens unterscheiden zwischen Cobras mit kaltem und denen mit heißem Blut.

Nur letztere seien giftig. Doch eines ist ihnen gemeinsam: alle gehorchen blind den Worten des Heiligen Benedikt.

Wer auf eine Cobra trifft, befiehlt ihr „sei gefangen, auf Geheiß des Heiligen Benedikt“ und schon sieht die Cobra davon ab, anzugreifen. Als letztes Mittel hilft wie immer ein Gebet: „Heiliger Benedikt, heißes Brot, Sakrament des Altars, jedes Hindernis in meinem Weg, geh weg, denn ich will vorbei!“.

Zur Vermeidung unangenehmen Kontaktes mit einer Cobra sollte man unbedingt folgende Regeln beachten: einen Brocken Quecksilber in der Tasche tragen, den Rocksaum umschlagen und darüber hinaus: nachts nicht pfeifen, denn dies rufe die aggressiven Schlangen umgehend auf den Plan!

Eine populäre Geschichte erzählt davon, dass Cobras nachts in die Zimmer von Frauen, die kurz zuvor entbunden haben, eindringen, um sie ihrer Muttermilch zu berauben. Während sie mit der Zunge die Milch aus der Brust der Frau saugen, stecken sie ihre Schwanzspitze in den Mund des Babys, damit dieses daran saugen kann und ruhig bleibt.

Die am weitesten verbreitete Geschichte erzählt von den Menschen, die gebissen wurden und wie durch ein Wunder überlebten. Das Geheimnis dieser Menschen ist, dass sie über einen corpo fechado, einen geschlossenen Körper, verfügen, der sie vor allem Übel, Krankheiten und auch vor Schlangenbissen beschützt. Dafür stirbt die Cobra nach dem Biss, wird tot aufgefunden oder verschwindet ganz einfach auf mysteriöse Weise.

Die Menschen halten Abstand zu den Gebissenen, die curados, Geheilte, genannt werden, denn diese können Tod und Verderben über Mensch und Tier bringen. Einmal, so versicherte mir ein Bauer, habe er gerade einen Bullen kastriert, als eine „geheilte“ Frau an dem Stall vorbei ging. Sobald sie zu reden anfing, wurde der Bulle unruhig, geriet in Panik und aus seiner frischen Wunde begann das Blut zu strömen bis er tot umfiel. Bei kranken Menschen löse die Stimme der „Geheilten“ ähnliche Symptome aus.

Mir fallen die Schriftzüge auf Häuserwänden ein, auf denen steht: „Bereitet Euch vor! Jesus kommt zurück!“ Und die kleinen Cachaça-Flaschen, die liebevoll „celular“ (Mobiltelefon) genannt werden, weil man sie wie ein Handy in der Brusttasche trägt. Mit ihrer Hilfe steht man in ständigem Kontakt zu den höheren und wohl auch tieferen Mächten dieser Welt.

Eine andere Art, mit ihnen und vor allem auch mit den Mächten der eigenen Seele Kontakt aufzunehmen, ist der „Santo Daime“, ein bösartig schmeckender, aus Pflanzen des Regenwaldes hergestellter Tee, der in geheimen religiösen Zirkeln von einer Art Hohepriester den Mitgliedern seines Ordens verabreicht wird. Mit seiner Hilfe reist man für 3-4 Stunden durch seine eigene innere Welt, deren Geheimnisse sich plötzlich offenbaren, um danach wieder in die Welt der Mysterien zu entfliehen. Am nächsten Tag wacht man befreit und mit der Gewissheit auf, die Geheimnisse des Universums gesehen zu haben, fühlt sich wie neu geboren, jedoch ohne sich genau an die preisgegebene Formel zum Verständnis der Welt zu erinnern.

Es ist schwer, sich dem Charme dieser so vergangenen Welt zu entziehen, obwohl man doch als aufgeklärter Mitteleuropäer meint, die Rationalität des Lebens beweisen zu können und die Welt in all ihren Farben, die zu uns durch das Fernsehen vorgedrungen sind, zu kennen und zu verstehen.

Ein Freund, der in einer kleinen Stadt des brasilianischen Nordostens groß geworden ist, erzählte mir einmal, wie das Fernsehen ihm die Lösung eines scheinbar unlösbaren Geheimnisses seiner Jugend offenbarte. Bis zum Ende der 70er Jahre gab es in seinem Dorf keinen Fernseher. Die wenigen im Nordosten vorhandenen Sendemasten standen in den großen Städten. Wer dort einmal in den Genuss gekommen war, mit der bunten Welt Hollywoods in Kontakt zu treten, hatte zu Hause viel zu erzählen.

Stolz ob ihres kulturellen Weltverständnisses gaben diese Auserwählten ihren Kindern Namen wie Lincoln, Washington oder Roosevelt. Das kleine Dorf jedoch erfuhr die Neuheiten aus der Ferne ausschließlich über das Radioprogramm „Voz do Brasil“ (Die Stimme Brasiliens), aber auch nur dann, wenn man über den Luxus eines eigenen Radios verfügte.

So wuchs mein Freund mit den Schallplatten seines Vaters auf, hörte die großen alten Stimmen Brasiliens wie Nelson Gonçalves, Maysa oder Núbia Lafaiete mit ihren „músicas de dor-de-cotovelo“, der romantischen Herzschmerzmusik. Oder der „rainha do radio brasileiro“, der Königin des brasilianischen Radios, nach einer dunklen Frucht „Sapoti“ benannten Ângela Maria. Oder des „ébrio“ genannten, „ständig betrunkenen“ Vicente Celestino, oder dem Bossa Nova der Mulattin Eliseth Cardoso.

Eines Tages kam eine Cousine meines Freundes, die mit ihrer Familie in der Hauptstadt wohnte, zu Besuch. Tränenüberströmt berichtete sie, dass Elvis Presley gestorben sei. Der Name habe zwar ein bisschen seltsam geklungen, berichtete mein Freund, aber in Anbetracht der Tatsache, dass die Nachbarskinder Franklin und Frankla, Disneilândio (von Disneyland), Disneiuolde (von Disneyworld), Ualdisnei (von Walt Disney), Dondiego (Zorro) und Durangoquide (von Durango Kid) hießen, vermutete er, dass es sich um einen Angehörigen der Familie, wohl um einen seiner zahlreichen Vettern handeln musste, obwohl er sich an niemanden mit diesem exquisiten Namen in seiner Familie erinnern konnte. Vor lauter Scham traute er sich nicht zu fragen, wer dieser Verwandte sei.

Über Jahre lebte er mit dieser Ungewissheit. Erst viel später wurden ihm mit der Ankunft des Fernsehens in seiner Stadt die Augen geöffnet. Wie irreal kann die Wirklichkeit sein: erst als Elvis Presleys Hüftschwung für immer erlosch, begann er auch im Bewusstsein meines Freundes zu existieren. Kann es einen treffenderen Beweis dafür geben, dass der globale Siegeszug des Fernsehens die Welt in den gleichen, laut in allen Regionen dieser Welt schlagenden Takt gebracht hat?

Am Ende der Straße tauchen die Scheinwerfer des Busses auf. Ich packe meine Taschen und stelle mich winkend an die Straße. Der Bus brettert an mir vorbei und lässt mich in einer Staubwolke zurück.

„Er ist einfach vorbei gefahren!“, rufe ich entsetzt dem Mann hinter dem Tresen zu. Der Mann bricht sein Schweigegelübde: „Ja, er kommt jeden Morgen hier vorbei. Aber er hält nie.“

Mit freundlicher Unterstützung von Cacá und Rogéria aus Fortaleza, zwei verlorenen Seelen.