Stefan Rinkes „Kleine Geschichte Chiles“ (07/2008)

Der Wahlspruch Chiles lautet „Por la Razón o la Fuerza“. Leider hat in den rund 500 Jahren seiner Geschichte, seit der Entdeckung durch Diego de Almargo im Jahre 1536, fast immer die Stärke über die Vernunft gesiegt. Das ist eine Erkenntnis, die man aus Stefan Rinkes „Kleine Geschichte Chiles“ zieht. Auf rund 200 Seiten beschreibt er die Entstehung des „Landes, wo die Welt zu Ende ist“, so die Übersetzung des Aymara-Wortes chilli, von dem sich der Name Chiles wohl ableitet. Das Buch erscheint in einem Publikumsverlag zu einer Zeit, da der Großteil der Publikationen zu Chile sich nur mit der neueren Geschichte beschäftigt oder Reiseliteratur ist. Denn seit dem Ende der Diktaturen und somit der Aufmerksamkeit durch Medien und Solidaritätsvereine sowie der Verlagerung des politischen Interesses Deutschlands nach Osten werden Länder wie Chile fast nur noch in Reisebeiträgen vorgestellt. Chile hat es dabei im Vergleich zu z.B. Kuba oder Mexiko doppelt schwer, denn es kann keinen publikumswirksamen Exportschlager wie Musik, Küche oder Strände für den Massentourismus ins Feld führen. Und es liegt nicht nur von Europa aus betrachtet an der Peripherie; auch von seinen Nachbarn ist das (Kern)Land durch die Anden und eine unwirtliche Wüste getrennt.

Stefan Rinke.
Kleine Geschichte Chiles
München: Beck, 2007

Der Wert des Buches liegt vor allem darin, dass Rinke in seine Darstellung der Geschichte des Landes immer wieder Details einbaut, die dem Leser sehr gut verstehen helfen, warum sich Chile und seine Menschen zu dem entwickelt haben, was sie heute sind. Dass z.B. die spanische Krone aus Eigeninteresse bis ins 17./18. Jahrhundert die Ausbildung von lokalen urbanen Eliten behinderte und so zu einer Verlagerung der Macht von den Städten auf das Land beitrug, parallel zur Erschöpfung der Edelmetallvorkommen, so dass die Landwirtschaft nun den Reichtum generierte und so die Großgrundbesitzer die Machtelite stellten, führte zu einer Machtkonstellation, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte. Ebenso die starke Militarisierung der Region während der Unabhängigkeitskriege, die viele Militärführer hervorbrachte, schon zu Beginn der Republik zu Putschen führte, und so die historischen Wurzeln für Pinochet und Konsorten bildete. Immer wieder – so z.B. im Kapitel über den Salpeterkrieg – klingt auch der Unwillen der Eliten mit, ihr Land zu entwickeln, solange sich die eigenen Taschen füllen.

Der Autor unternimmt zudem Ausflüge in die Kulturgeschichte Chiles. So streift er hier und da die Literatur, schildert den Beginn des Kinos und eine Diskussion über Populär- oder Volkskultur. Er erwähnt musikalische Entwicklungen und schildert, wie das Pinochet-Regime Rockkonzerte als Brutstätten des Übels verbot, jedoch gleichzeitig die Verbreitung der US-amerikanischen Massenkultur, die untrennbar mit Rockmusik verbunden ist, förderte. Rinke behandelt häufiger als andere Autoren von kürzeren Geschichtswerken kulturgeschichtliche Phänomene und Begebenheiten, trotzdem verschenkt auch er eine Chance. Denn „Kleine“ Geschichten müssen sich zwar beschränken, aber einige Sätze mehr zu Literatur, Folklore, Malerei, Musik oder Sport hätten den Rahmen nicht gesprengt und gäben dem Leser weitere Anhaltspunkte für Eigenheiten des Landes, die sich durch die kleinteilige Schilderung von Wahl- oder Machtkämpfen nicht erschließen. Insgesamt wird ein Buch auch lesefreundlicher, wenn die eine oder andere sinnvolle Anekdote die detaillierten politischen Fakten und Daten ergänzt.

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