Flamenco, neu betrachtet

„Wenn ich singe, schmeckt mein Mund nach Blut“, bekannte der Sänger Manolito el de la María. Der Flamenco besingt ein Leid, das auf sehr konkreten Erfahrungen beruht. Nämlich vor allem auf dem der 1425 aus Indien nach Spanien emigrierten gitanos, die sich einem Staat und einer Gesellschaft gegenüber sahen, die über Jahrhunderte mehr oder weniger gewaltsam versuchten, sie zu integrieren. Diese Ursprünge und die weitere Geschichte des Flamenco arbeitet Autor Kersten Knipp detailreich heraus, wobei er bei seinen tiefschürfenden Recherchen auch viele Anekdoten ausgegraben und in seinem Text verarbeitet hat, so dass man bei der Lektüre zeitweise vergisst, ein Sachbuch in Händen zu halten.

Kersten Knipp
Flamenco
Suhrkamp Verlag 2007
Taschenbuch
244 Seiten, 8,50 Euro

Er beschreibt die Armut des normalen Volkes zur Zeit der Bourbonen und dessen Vorliebe für das deftige Volkstheater, aus dem einige der Vorläufer des Flamencogesangs und -tanzes entsprungen sind: „Tabak, Alkohol, Musik – und nicht zuletzt eine zumindest latent erotische Atmosphäre“ bildeten den Rahmen bei der Entstehung der Frühformen des Flamenco. Francos Instrumentalisierung der andalusischen Musik – generell der dortigen Traditionen – erklärt der Autor genauso wie die modernen Strömungen im Flamenco (u.a. Flamenco-Rap) und die damit verbundene, schon immer währende Diskussion über den Flamenco „puro“ oder „impuro“. Denn Leser, die dachten, der Kampf der Traditionalisten um den reinen Flamenco habe erst in den 1970er Jahren mit Paco de Lucias und Camaróns Modernisierungen des Genres begonnen (u.a. Integration elektrischer Instrumente sowie von Jazz-Elementen), werden eines besseren belehrt: Schon seit den 1920er Jahren, als die Kommerzialisierung des Flamenco in den cafés cantantes begann, tobte dieser Kampf und führte u.a. zu einer von Knipp sehr detailliert beschriebenen Festival-Initiative (1922) des Dichters Federico García Lorca zur Rettung des cante jondo.

Die Herausarbeitung der Kommerzialisierung des Flamenco unterscheidet Knipps Buch von anderen Werken über die inzwischen weltweit beliebte Musik (in Japan existiert eine der vitalsten Szenen von Flamenco-aficionados). Er entzaubert die Legenden, nach denen der Flamenco eine reine Erfindung armer gitanos sei. „Zigeunerhaft“, aber nicht „zigeunerisch“ wurde er auf dem Weg seiner Verbreitung, zitiert Knipp den Romanisten Hugo Schuchardt (1881) und nimmt diesen Faden auf, um auch in der weiteren Entwicklung der spanischen Nationalmusik immer wieder aufzuzeigen, wie geschickte und clevere Interpreten, Cafébesitzer und Konzertagenten sich den Vorlieben des Publikums anzupassen wussten. So veränderten sie den Flamenco immer weiter bis er das wurde, was er heute ist: einerseits ein kommerziell erfolgreiches Produkt der Musikindustrie, gereinigt von den derben Klängen seines Ursprungs, andererseits – vor allem bei Künstlern wie u.a. Miguel Poveda, Tomasito, Pata Negra oder Ojos de Brujo, die in Madrid und Barcelona in Kontakt mit vielen musikalischen Kulturen dieser Welt kommen – eine Basis für neue, spannende Experimente, die diese Musik auch für die Jugend wieder interessant macht. Denn heute ist der traditionelle Flamenco nur noch eine Option unter vielen.

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