Reisende Wissenschaftler nach Alexander von Humboldt

Humboldt war bestrebt, die Natur als Ganzes darzustellen. In seinem Werk Kosmos verarbeitet er ungeheure Mengen empirischen Materials. Seine eigenen Beobachtungen, Messungen und Sammlungen gaben aufgrund der Fülle den entscheidenden Anstoß zur Entstehung neuer und vor allem spezieller naturwissenschaftlicher Forschungszweige. Wissenschaftliche Reisende in Venezuela nach Humboldt fixierten sich auf einzelne Teildisziplinen. Hier überwog die Gruppe der Botaniker, gefolgt von Zoologen, Ethnologen, Geographen und Geologen.

Kolibri in La Gadivia, Anden Venezuela
Kolibri in La Gadivia, Anden Venezuela

Die Forscher konzentrierten sich während ihrer Reise aber nicht nur auf ihre Spezialgebiete, sondern taten es in ihrer Beobachtungs- und Sammelwut dem „Meister“ gleich und schleppten alles, was in derPflanzen- und Tierwelt nicht niet- und nagelfest war, ins Kaiserreich.

Humboldt galt als uneingeschränktes Vorbild. Anton Göring schreibt 1867:
„In der Guacharohöhle sieht man […] Humboldts Namen, den er in einen Stein geritzt hat, noch ziemlich deutlich. […] Das machte auf mich einen eigenthümlichen Eindruck, als ich auf derselben Stelle stand, wo der größte Mann der Wissenschaft gestanden.“

Göring und Kollegen kopierten daher nicht nur die Forschungstechniken Humboldts, sie glichen ihre eigenen Reisebeschreibungen in der äußeren Darstellungsform den seinigen an, sie reisten auf seinen Spuren und teilten seine Erlebnisse, wie die Brüder Schomburgk, die ebenfalls kurz vor Erreichen der Orinokoquellen durch kriegerische Indios zur Umkehr gezwungen wurden.

Die Werke Humboldts waren fester Bestandteil einer jeden Reiseausrüstung. Die reisenden Forscher versuchten auf ihrer Tour, Venezuela mit den Augen des Vorbilds neu zu erleben. Entsprach das Bild einer vorgefundenen Landschaft, etwa das der Llanos, nicht den Ausführungen Humboldts, so bemühten sich die Forscher, wie im Folgenden Sachs (1872), die Veränderungen zu erklären:

„In den achtzig Jahren, seitdem Humboldt jene Gegenden Venezuela´s besuchte, hat sich wohl der Charakter der Llanos in einzelnen Punkten verändert. Namentlich die Zahl der Laubbäume ist gegenwärtig bei weitem nicht mehr so gering wie damals, eine Erscheinung, als deren Hauptursache die gewaltige Verminderung in der Zahl der Rinder anzusehen ist, welche seit etwa dreißig Jahren in Folge der endlosen Revolutionskämpfe und aus anderen Gründen stattgefunden hat. Während nun in früherer Zeit durch die zahllosen weidenden Rinder die jungen, sich erst entwickelnden Keime baumartiger Pflanzen abgefressen oder niedergetreten wurden, können sie sich jetzt in der vereinsamten Steppe ungehindert entwickeln. Allein die großen Umrisse des Humboldt´schen Bildes sind auch heutzutage noch gültig.“

Kolibri an einer Trinkflasche in den Anden, Venezuela
Kolibri in den Anden, Venezuela

Sachs, der Wissenschaftler, wäre nie auf den Gedanken gekommen Humboldt in Frage zu stellen. Kritik konnte nur von dem mit „wenig naturwissenschaftlichen Kenntnissen“ bewanderten Touristen ausgehen. So schreibt Friedrich von Gertäcker 1869:
„Ich hatte nämlich früher mit großem Entzücken Humboldt´s`Nächtliches Thierleben im Urwald´ gelesen und muß gestehen, daß gerade jene kleine Skizze einen solchen Reiz auf mich ausübte, daß ich Venezuela und den Orinoco immer in der Erinnerung behielt und zuletzt auch nicht ruhen konnte, bis ich ihn selber besucht hatte.

Ich muß leider gestehen, daß ich mich da in vieler Hinsicht entweder sehr enttäuscht fand, oder vielleicht auch nur noch meine Phantasieder Humboldt´s hinzugefügt hatte, und dem entsprach die Wirklichkeit nicht.“

Doch sollte der Autor für die Unverfrorenheit, Humboldts Ausführungen in Frage zu stellen, nicht ungestraft bleiben. Von der Redaktion der Zeitschrift „Das Ausland“ erhielt er kurz nach Erscheinen seines Reiseberichts eine gepfefferte Retourkutsche:
„Nicht minder beklagt sich Gerstäcker, daß er „die nächtlichen Stimmen im Urwalde“, wie sie A. v. Humboldt geschildert hat, nicht zu hören bekommen sollte. Er betrachtete sie als Phantasiestücke wie die „Geschichten vom Zitteraal“, welche Humboldt auf fremde Berichte gestützt in „seinen Naturbildern ein wenig romantisch ausgeschmückt habe“. Hier halten wir es denn für nöthig, ein wenig Bescheidenheit zu predigen. Gerstäcker hat die halbe Welt aber und abermals gesehen, dennoch füllt er seine Bücher mit nichts besserem als alltäglichen Reise-Erlebnissen, Domestikenzänkereien, und beschreibt uns dießmal auf jedem Rastplatze die Begegnungen mit den Regierungstruppen oder den Freischaren der venezuelanischen Revolution. Hätte er sich nur ein wenig naturwissenschaftliche Kenntnisse erworben, welchen dauernden Werth hätte er allen seinen Schriften zu geben vermocht! So oft er es versucht, irgendeinen Schöpfungsgegenstand zu schildern, wie z.B. die Seenessel oder Physalia Arethusa, kennt er nur den englischen Trivialnamen (Portuguese man of war) und was er darüber sagt, ist für den Fachmann völlig werthlos. Es ist daher vermessen, wenn er die Genauigkeit eines so unvergleichlichen Reisenden wie A. v. Humboldt zu verdächtigen sucht.“

Am 1. Januar 1800, heute vor 200 Jahren, brachen Humboldt und Bonpland auf, die Silla de Caracas zu besteigen. Ein Ausflug auf den „Sattel“, den Berg mit zwei Spitzen, wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum absoluten Muß für die zweite Generation deutscher Forscher in Venezuela. Auch heute noch streifen wir, die „Urenkel Humboldts“, auf den Bergen Caracas umher, um uns gegenseitig aus Humboldts „Die Reise nach Südamerika“ vorzulesen.