Mit Rosario in die Gruft

Sie thront auf einem Hügel hoch über dem andalusischen Landstädtchen Osuna auf halber Strecke zwischen Sevilla und Málaga. Die ab 1530 erbaute Stiftskirche, zugleich Grablege der Herzöge von Osuna ist eines der größten architektonischen Juwele der spanischen Renaissance und wirkt mit ihrem kathedralischen Anspruch überdimensioniert für diesen kleinen Ort. Heutzutage leisten sich Millionäre, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, eigene Fußballvereine; damals im 16. Jahrhundert Kirchenbauten. Vor kurzem brachte es die grandiose Kirche von Osuna zu weltweiter Popularität, weil in ihrem Innenraum einige Szenen der Mega-Serie „Game of Thrones“ gedreht wurden.

Kirche von Osuna

Und jetzt erscheint Rosario auf der Bühne. Im ersten Moment war sie mir nicht sehr sympathisch – denn sie schickte mich einfach wieder weg. Obwohl die Besichtigungszeit der Kirche offiziell bis 19 Uhr geht, teilte sie mir kurz vor 18 Uhr gnadenlos mit, dass sie für Einzelbesucher jetzt keine Führung machen könne und den Tempel nun abschließen müsse, denn sie habe noch etwas wichtiges vor. Ich hatte den Eindruck, dass Rosario diesen Moment unumschränkter Machtausübung genoss , so sehr als sei sie selbst die Herzogin. Ich schätze sie auf Ende 50, aber sie wirkt zeitlos in ihrem eleganten schwarzen Kostüm und verströmt die Aura aristokratischer Grandeza Andalusiens. Ich hätte sie mir gut mit schwarzer Mantilla am Rand einer Semana Santa Prozession oder Fächer schwingend beim Stierkampf vorstellen können. Am nächsten Morgen steige ich also wieder frohen Mutes die steile Treppe zum Heiligtum empor und am Ende der Treppe thront Rosario und blickt auf mich herab wie Kleopatra.

Diesmal gewährt mir die Hüterin des Tempels von Osuna gnädig Einlass. Es wartet bereits eine Kleingruppe junger Spanier und die Gruppenführung kann beginnen. Rosario verschwendet keine Zeit mit langen Einleitungen: „Nun, dass dies eine der wichtigsten Kirchen Europas ist, dürfte allen bekannt sein, deshalb sind sie ja wohl hergekommen, nehme ich an…“ Dann zählt sie triumphierend die wichtigsten Kunstschätze auf: „Wir haben hier fünf Originalgemälde des Malergenies José de Ribera (1591 – 1652), ein Christusbild von Luis de Morales dem Göttlichen, zwei Marmorkanzeln und eine unterirdische Grabes-Kirche mit grandiosem Hochaltar und Dutzenden von prächtigen Sarkophagen toter Herzöge…“

Mitten in ihren Kunst-Monolog platzt die erste Frage einer jungen Frau aus Barcelona, die hinter sich zeigt und fragt, ob das Christusgemälde in dieser Kapelle auch von Ribera sei. Ein strafender Blick ist die erste Antwort. Man sollte es lieber nicht wagen, Rosario zu unterbrechen. Sie holt tief Luft und erklärt dann gebieterisch: „Sie müssen schon warten, bis ich mit meinen Erläuterungen fertig bin – und wenn Sie gut zuhören, wird Ihnen auch nichts entgehen…“

Rosario kommentiert mit drei kurzen Sätzen die finstere Kreuzigungsszene von José de Ribera hinter uns, als wäre dieses weltberühmte Barockbild mit den heftigen Kontrasten zwischen Licht und Finsternis eine Kleinigkeit. Abrupt bittet sie die Gruppe, ihr zur nächsten Kapelle und dann zum Chorraum der Kirche zu folgen. Dort bleibt sie vor zwei Kanzeln aus rosa Marmor stehen, die mit reichlich Figuren verziert sind. Mit großer Geste weist sie auf die Marmorkunstwerke und bemerkt, dass es an einem anderen Ort zwei völlig identische Kanzeln gebe. „Weiß zufällig jemand wo?“ Ohne zu überlegen, sprudelt es aus mir heraus: „In der Kirche El Salvador in Sevilla!“ Rosario blickt mich eine Zehntelsekunde fassungslos an, denn anscheinend hat bisher kaum jemand diese Frage richtig beantwortet und am wenigsten hätte sie das wahrscheinlich von einem daher gelaufenen Deutschen erwartet. „Sí Señor!“ antwortet sie schnell, ihre Irritation mit aristokratischem Lächeln überspielend. Von da an ist sie gewarnt und heraus gefordert. Diese Führung wird nebenbei zu einem Quiz-Duell zwischen ihr und mir und sie beginnt, das Frage-und-Antwort Spiel mehr und mehr zu genießen. (Ich übrigens auch).

Wir folgen Rosario zur nächsten Kapelle. Dort zeigt sie auf eine beeindruckende Skulptur eines gekreuzigten Christus und fragt in die Runde (aber eigentlich nur mich): „Dieser Christus hat einen Zwillingsbruder – eine Skulptur, die exakt genauso aussieht, nur deutlich größer ist. Weiß jemand, wo dieser „Zwilling“ steht und von welchem Künstler er geschaffen wurde?“ Ich gönne Rosario einen kurzen Triumph der Stille, bevor ich antworte: „Es ist der Christus des Guten Todes, geschaffen vom Barockbildhauer Juan de Mesa 1620 in Sevilla. Dort befindet er sich in der Kapelle der Bruderschaft der Studenten.“ Mit einer seltsamen Mischung aus Verärgerung und Vergnügen registriert Rosario diese Antwort mit langsamem Kopfnicken. Nun ist ihr klar, dies wird ein Duell eventuell auf Augenhöhe mit dem Gringo. Ab jetzt scheint sie zu überlegen, mit welcher Frage sie mich am Ende überlisten kann.

Wir folgen ihr in die Sakristei, wo die phänomenalen Ribera-Gemälde hängen (San Bartolomé, San Sebastián, San Jerónimo, San Pedro). Zu meiner Überraschung sagt Rosario zu dieser Hauptattraktion der Kirche wenig (mag sie Ribera nicht?) und lenkt unsere Aufmerksamkeit lieber auf eine prachtvolle Monstranz.

„Dazu will ich Euch eine Geschichte erzählen.“ Vor ein paar Jahren gab es Restaurierungsarbeiten in der Kirche. Dabei sei diese Monstranz gestohlen worden. Einer der Bauarbeiter habe tatsächlich versucht, das meterhohe Barockkunstwerk an einen russischen Millionär zu verkaufen, doch dieser Plan sei fehlgeschlagen. „Entweder hatte der Millionär Angst vor dem Risiko, weil diese Monstranz zu bekannt ist oder er hatte im letzten Moment Skrupel, weil ihm das Diebesgut doch zu heilig war…“ Die Studentin hinter mir flüstert einen Tick zu laut: „Vielleicht war sie ihm einfach nur zu teuer…“ Rosario schleudert einen sehr bösen Blick auf die Absenderin dieses Kommentars. „Wie dem auch sei“, setzt sie ihre Erzählung mit gebieterischer Stimme fort, „die Diebe konnten die Monstranz nicht verkaufen und am Ende packte sie vielleicht auch die Reue, etwas Heiliges aus einer Kirche gestohlen zu haben. Sie vergruben sie hier in der Nähe und legten einen Zettel in die Kirche mit dem Hinweis, wo das gute Stück zu finden sei. Und jetzt schaut Euch dieses Wunderwerk an.“

Die Frage der Frau aus Barcelona nach den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen in dieser Kunst-Kirche kommentiert Rosario mit den Worten, dass sie schon manchmal Angst habe, vor allem im Winter, wenn kaum Besucher kämen und sie in der riesigen Kirche ganz allein wäre mit all den Kunstschätzen und dann plötzlich ein verdächtiges Geräusch höre: „Stellt euch nur vor, dass ein einziges Ribera-Gemälde eine zweistellige Millionensumme wert ist…und dann ich ganz allein hier als Hüterin dieser Schätze. Da kann einem schon mulmig werden…“

Und noch eine Geschichte hat Rosario in ihrem Repertoire. Sie erzählt uns von den Dreharbeiten zu „Game of Thrones“ in Osuna: „Da gab es unten auf der Plaza lange Schlangen von jungen Leuten, die sich um Rollen als Komparsen bewarben. Viele haben sich ihre schicksten Kleider angezogen, die Mädchen haben sich geschminkt und parfümiert und einige die Haare blond gefärbt, als wollten sie Prinzessinnen spielen. Aber die Hauptrollen waren ja schon längst besetzt und die Casting-Agentur hat eben nur Komparsen gesucht. Am Ende sind sie ins Nachbardorf gefahren und haben dort die Hässlichsten und Dreckigsten direkt von der Feldarbeit weg engagiert.“ Mit einem leicht maliziösen Lächeln verrät Rosario ihre Schadenfreude, als sie ihr Fazit aus dieser Geschichte zieht: „Die Dorf-Prinzessinnen hatten sich die Haare umsonst blondiert…“

Und nun folgen wir unserer Führerin treppab in die Gruft, wo uns die Grabmäler toter Herzöge von Osuna erwarten. Rosario defiliert mit uns vorbei am morbiden Panorama Dutzender Herzogs-Sarkophage mit prächtig eingravierten Inschriften und bleibt abrupt vor dem letzten stehen. Dieses Grabmal ist sehr minimalistisch und ganz ohne Inschrift. Mit kaum versteckter Empörung in der Stimme verrät uns Rosario, dass hier die letzte Herzogin von Osuna ihre Ruhestätte hat und obwohl sie schon vor Jahren verstorben sei, hätten ihre Nachfahren es bisher nicht geschafft, die übliche Inschrift mit Namen und Lebensdaten anbringen zu lassen. „Trotz allem, was diese Herrschaften von ihr geerbt haben… Deshalb habe ich mir erlaubt, wenigstens mit einem Zettel den Namen der toten Herzogin zu ehren.“ Mit diesen Worten zeigt uns Rosario ein sorgfältig gefaltetes handgeschriebenes Papier auf dem Sarkophag. Dann lassen wir die Steinsärge hinter uns und wenden uns wieder schöneren Kunstwerken zu.

Wir werden in die einzigartige unterirdische Kirche von Osuna geführt. Sie hat zwar eher die Dimension einer Privat-Kapelle, wirkt aber in ihrer dreischiffigen Pracht und mit ihren spektakulären Kunstschätzen wie eine Kathedrale im Miniaturformat. Denn alles, was Kathedralen auszeichnet, ist vorhanden: ein Chorgestühl (wenn auch nur mit 11 Sitzen), eine prunkvoll vergoldete Kassettendecke, Marmorsäulen, erstklassige Gemälde und ein wunderbarer Hochaltar des flämischen Meisters Roque Balduque, der die ergreifende Szene der Grablegung des Erlösers darstellt (1540).

Rosario nimmt jetzt ihr Quizduell mit mir wieder auf und fragt, welcher viel größere und viel berühmtere Hochaltar diesen hier zum Vorbild genommen habe und fast wie eine vergrößerte Kopie aussehe. Noch fünf Minuten zuvor war ich ahnungslos, aber beim Anblick dieses faszinierenden Kunstwerks fällt mir die Ähnlichkeit sofort auf: „Offenbar hat sich der geniale Pedro Roldán für seinen Hochaltar der Grablegung Christi für die Kirche des Hospital de la Caridad in Sevilla hier inspiriert.“ Stumm nickt Rosario mit dem Kopf, sie hatte meine Antwort wohl erwartet und ich weiß nicht, ob ihr merkwürdiges Lächeln Ärger oder Befriedigung über mein Wissen ausdrücken soll.

Kaum sind die anderen die Treppe hinunter gegangen, fragt mich Rosario plötzlich flüsternd: „Willst Du ein Foto machen?“ – „Aber ich dachte, das sei verboten?“ – „Jetzt mach schon, bevor die anderen wieder kommen!“ Offenbar war dies die Belohnung für die richtig beantworteten Fragen. Abrupt zücke ich die Kamera und verewige diese unterirdische Schatzkammer zu meiner Erinnerung.

Wir steigen wieder empor zum Tageslicht und der Blick nach draußen zeugt, dass ein kurzes aber heftiges Gewitter nieder gegangen ist, während wir in der Gruft weilten. Doch inzwischen scheint wieder die Sonne und taucht die Renaissancekirche auf dem Hügel in unwirkliches Licht vor düster abziehenden Gewitterwolken. Beim Abschied stellt Rosario uns noch eine letzte Frage (nur an mich): „Du als Deutscher müsstest das wissen: was haben Osuna und Berlin gemeinsam?“ Jetzt hat sie mich aber! Alle schauen erwartungsvoll. Ich weiß es wirklich nicht (bin schließlich Kölner!).

Rosario kostet ihren finalen Triumph aus, gibt mir noch Bedenkzeit, vergeblich. „Osuna und Berlin haben dasselbe Wappentier: es ist ein Bär!“, klärt sie uns alle auf. Und damit geht eine außergewöhnliche Besichtigungstour durch eine der prächtigsten Kirchen Europas zu Ende und ich danke Rosario für ihre Geduld, grandiose Anekdoten, das Quiz-Duell und ein illegales Foto.

Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Colegiata de Osuna: Öffnungszeiten: von Oktober bis April 10:00 – 13:30 und 15:30 bis 18:30; von Mai bis September 10:00 bis 13:30 und 16:00 bis 19:00 Uhr. Montags geschlossen (im Juli und August auch Sonntagnachmittags geschlossen). Eintritt: Kombiticket (4 Euro), das auch für das gegenüberliegende Kloster Encarnación mit dem Museo de Arte Sacro gilt.

Unterkunft in Osuna: Hospedería del Monasterio, Plaza de la Encarnación, 3, 416 40 Osuna, Spanien, Tel. +34 955 82 13 80, http://hospederiadelmonasterio.com/
In bester Lage, zwischen der Stiftskirche und dem Kloster La Encarnación, bietet dieses Hotel Zimmer in historischem Gemäuer und luxuriösem Ambiente schon ab 48 Euro (EZ) bzw. 59 Euro (DZ). Zudem elegantes Restaurant / Tapas Bar mit Terrasse und erstaunlich günstigen Preisen.

Gastronomie in Osuna: Taberna Jicales:  C. Esparteros 11, Tel. 954-810423, http://tabernajicales.multiespaciosweb.com/
Rustikale Tapas-Bar mit den üblichen andalusischen Spezialitäten in besonders guter Ausführung (Salmorejo, Croquetas Caseras, gebackene Gambas mit Bechamelsauce, Rinderfilet mit Pedro-Ximenez-Sauce, Kabeljau mit Pinienkernen, etc.)