Giralda in der Pfütze – Semana Santa 2012 in Sevilla

Sevilla, Palmsonntag, 01. April 2012, 15:00 Uhr
Am Vorabend hatte ich von einem meiner Sevillaner Freunde folgende SMS erhalten: „Angesichts der Wetterprognosen würde ich mich am liebsten von der Giralda stürzen!“ Er tat es dann nicht, obwohl der Himmel ihm genug Gründe lieferte: in Form von endlosen Wolkenformationen, die eine solche Sintflut über Sevilla brachten, dass der Bau einer Arche von gewissen Kreisen ernsthaft debattiert werden sollte.

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In der Tat waren schon die Vorzeichen für die diesjährige Semana Santa nicht gut, die Isobaren-Karte kündigte ähnlich desaströses Regenwetter wie bereits 2011 an.

Vor dem Regen und nach der Palmsonntags-Messe im Kloster Santa Paula sitzen Carmen und ihr Mann Manolo, Theresa und Regina, meine Freundin Angélica (sie langweilt sich oft während der Prozessionen, kommt aber uns zuliebe mit), die junge, 20-jährige und oft euphorische Cayetana aus Cádiz, zwei Pilger aus Madrid (Manuel und Christina) und ich (diesmal hat die Redaktion die Namen nicht geändert) im Patio des Pumarejo-Palasts.

Das traditionelle Palmsonntags-Buffet unter den Arkaden des Innenhofs ist so köstlich wie immer: Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf, Tintenfisch-Frikadellen, Gazpacho in verschiedenen Rottönen und Thunfisch-Schinken (Mojama), zum Nachtisch Mango-Tiramisu und Torrijas, die köstliche, honigtriefende Süßigkeit der Sevillaner Karwoche.

Eigentlich ist alles wie immer. Elegant gekleidete Menschenmassen, Kinder, die mit Madonnenbildchen Karten spielen, frohe Erwartung über dem Platz. Nur eines fehlt, das wird um halb fünf nachmittags allen klar: die Prozession der Bruderschaft La Hiniesta, die zu diesem Zeitpunkt den Platz überqueren soll. Keine Musik, keine in Blau gewandeten Nazarenos, stattdessen ein Donner wie ein Erdbeben und ein plötzlicher Platzregen, der alle überrascht. Nur wenige haben Schirme dabei, viele flüchten unter die Arkaden des Palasts, während im Zentrum des Pumarejo-Platzes ein gigantischer Regenschirm improvisiert wird – die Menge hält eine Plastikplane über ihre Köpfe. Doch noch sind alle gut gelaunt, niemand will sich ernsthaft vorstellen, dass dieser Regenguss fast eine ganze Woche dauern anhalten könnte.

Cayetana quengelt, dass sie dieses Jahr aber endlich mal „La Borriquita“ sehen möchte – eine Prozession für Kinder mit einer reichlich kitschigen Altarbühne („Paso“). Manuel, immer mit einem Ohr am Radio, mahnt zur Geduld und berichtet, im Moment sei aufgrund des Regens keine einzige der neun Prozessionen des Palmsonntags unterwegs und schon fünf wären komplett abgesagt.

Paso der Bruderschaft El Amor
El Amor

Diese Neuigkeit dämpft dann doch die Stimmung, nur Angélica wirkt nicht sonderlich traurig, sondern fast erleichtert und lehnt sich entspannt in ihrem Sessel zurück. Zu früh. Denn als die Dämmerung anbricht, verkündet das Radio, dass El Amor, die schönste Prozession des Tages, doch stattfinden wird. Es hat aufgehört zu regnen und die Menge macht sich auf den Weg zur Kirche El Salvador.

Das Gedränge auf dem Platz vor der Kirche ist unerträglich und zu allem Übel fällt genau in dem Moment, als der golden strahlende Paso mit dem Christus der Liebe herab steigt aus der roten Barockkirche, eine junge Frau neben uns in Ohnmacht. „Manche übertreiben es aber mit der mystischen Ekstase…“, bemerkt Theresa trocken und Regina fügt hinzu: „Sicher eine Touristin.“ Manolo, Manuel und ich tragen sie über die Köpfe der Menge hinweg wie bei einem Rockkonzert an den Rand des Platzes, wo sie, an einen duftenden Orangenbaum gelehnt, wieder zu sich kommt. Und gleich einem Engel der Altarbühne in die Augen blickt, als diese nah an ihr vorbei getragen wird. „Nein, Du bist noch nicht im Himmel“, beruhigt Manolo lächelnd die Erwachte, die etwas erschrocken in die Runde blickt.

Heiliger Montag, 02. April 2012
Nachdem wir bei Angélicas Eltern zu Mittag gegessen haben (ihre Mutter macht die besten Croquetas der Welt!) gehen wir ins Café de la Prensa nahe der Brücke von Triana, wo wir die Prozession der Bruderschaft San Gonzalo ansehen wollen.

 

Es hatte schon mittags einen heftigen Wolkenbruch gegeben, der alle Straßen kurz unter Wasser setzte, doch jetzt scheint der Himmel einen Waffenstillstand anzubieten. Angélica und ich sitzen vor Espresso und Trüffeltörtchen im Café. Während ich natürlich im Semana Santa Programm blättere und mich angesichts der dunklen Wolken frage, welche Bruderschaften sich heute mutig für oder vernünftig gegen ihre Prozession entscheiden, studiert Angélica ganz entspannt einen Modekatalog. Sie scheint sich innerlich schon auf den nächsten Regenguss ohne Prozessionen und einen gemütlichen Nachmittag im Café de la Prensa eingerichtet zu haben und nippt zufrieden an ihrem Sherryglas.

Ich dagegen blicke unruhig nach draußen und als ich sehe, wie dort die ersten drei Regenschirme aufgespannt werden, wird mir schlagartig klar, dass man diesen Tag in die Tonne treten kann. Da kommen Manuel und Christina und drängen zum Aufbruch. Obwohl wir nichts Gutes ahnen, steigen wir die Treppe zur Brücke hinauf. Inzwischen haben fast alle Zuschauer der Prozession von San Gonzalo Schirme aufgespannt und als der goldglänzende Paso auf der Brücke erscheint, bietet er ein bizarres Bild. Die ganze Altarbühne ist mit Plastik abgedeckt, die Christusstatue in ein schwarzes Regencape gehüllt – so marschieren die Träger, ohne Musik und fast im Laufschritt, um ihre wertvolle Fracht so schnell wie es die drei Tonnen Gewicht erlauben, unter das rettende Dach der Magdalena-Kirche zu bringen.

Die Menge applaudiert so gut das mit Schirmen in der Hand geht. Doch dann nützen auch die Schirme nichts mehr, Dutzende fliegen durch die Luft, als sich der Regen zum flutenden Orkan steigert. Hunderte (diesmal Zuschauer, nicht Schirme) flüchten von der Brücke, retten sich unter Arkaden und Vordächer des Arenal-Viertels. Der Regen peitscht unter den Schirmen hindurch und klatschnass erkämpfen wir uns einen Platz in einem Hauseingang. Die Straße Arjona verwandelt sich in einen Fluss. Eine Stunde müssen wir warten, bis der Regen etwas nachlässt. Zum Trost gönnen wir uns im Restaurant „Pepe Hillo“ ein Abendessen mit „reichlich Rotweinchen“ (wie Cayetana meint) und einer zünftigen Stierschwanz-Suppe – serviert unter Stierköpfen, die stoisch auf uns herab blicken.

Omnium Sanctorum [zoom]
Los Javieres [zoom]

Heiliger  Dienstag, 03. April 2012
Um 16.00 Uhr stehen wir mit neuem Mut vor dem Portal der Kirche Omnium Sanctorum und warten auf die Prozession der Bruderschaft Los Javieres. Es regnet nicht, aber dunkle Bewölkung liegt wie ein bleischwerer Vorhang über dem Stadtpanorama und Manuel verkündet was niemand hören will: im Radio wird von ergiebigen Regenfällen nur 50 Kilometer westlich von Sevilla berichtet. Im Innern der Kirche diskutiert die Bruderschaft, ob man die Prozession wagen soll oder nicht. Eine Stunde später – es regnet noch nicht – wird den frustrierten Zuschauern das Nein bekannt gegeben. Zum Trost öffnen sich um 17.45 Uhr die Pforten der Kirche, damit die Menge zumindest die Altarbühnen der Bruderschaften Los Javieres und Carmen Doloroso bewundern kann. In diesem Moment lässt ein Donner, laut wie ein Explosionsknall, die Stadt erzittern und der Regengott öffnet erneut die Schleusen des Himmels.

Ein zweiter Donner scheint endgültig das Jüngste Gericht anzukündigen und versetzt die Menge in Panik. Alles flieht überstürzt ins rettende Kirchenschiff von Omnium Sanctorum, als ob es die Arche Noah wäre. Neben mir schwelgt ein Apokalyptiker in Weltuntergangsphantasien: die Maya, die das Ende der Welt ja erst für den 21.12.2012 vorausgesagt hätten, müssten sich irren – es passiert schon heute! Aber während draußen der Regen prasselt, beruhigen wir uns beim Anblick des „Christus der Seelen“ und der melancholisch lächelnden „Jungfrau des Schutzes“.

Dann wagen wir uns hinaus in den Regen, kommen aber nicht weit. Wie gestern müssen wir über eine Stunde unter einem Vordach verharren, bis das Schlimmste vorbei ist. Diesmal in der Straße Amor de Dios (Liebe Gottes). Plötzlich ruft neben uns eine Frau fast hysterisch gegen den Himmel: „Was haben wir bloß getan, um das zu verdienen?!“ Christina murmelt entmutigt: „Also heute scheint Gott uns wirklich nicht zu lieben…“

Und Carmen dreht sich traurig kichernd (ja, das gibt’s!) um: „Habt ihr mal darauf geachtet, wo wir gerade stehen? Im Eingang eines Begräbnis-Instituts!“ In der Tat schwebt das Schild mit der Aufschrift „Funeraria“ symbolisch für diesen Tag drohend über uns.

Es ist der Tiefpunkt. Sogar Cayetana geht deprimiert bereits um acht Uhr abends ins Bett.

Heiliger Mittwoch, 04. April 2012
Zum Auftakt der gleiche Schauplatz wie gestern, nur etwas hoffnungsvoller. Es wäre übertrieben zu berichten, dass die Sonne sich gezeigt hätte, aber die Wolkendecke hat sich deutlich aufgehellt und gibt ein paar Lichtfenster frei. Applaus brandet auf, als sich das Kirchentor öffnet. Aus dem Portal von Omnium Sanctorum schiebt sich der riesige Paso von El Carmen Doloroso, eine Altarbühne üppig geschmückt mit violetten Lilien und groß wie eine Doppelhaushälfte.

Carmen Doloroso [zoom]
San Bernardo [zoom]

Wir begleiten ihn bis zur Herkules-Allee, dann trennt sich unsere Gruppe kurz. Die Madrilenen müssen schnell ins Hotel, um ihre Kamera aufzuladen. Manolo, Cayetana und ich eilen im Laufschritt zum Alfalfa-Viertel, wo wir die Prozession von San Bernardo sehen wollen. Wir kommen gerade noch rechtzeitig und postieren uns am Ende der engen Gasse Candilejo. Zwischen Balkonen, vergitterten Fenstern und Reklametafeln, die so unterschiedliche Produkte wie Juwelen und Backfisch anpreisen, bahnt sich der gekreuzigte Christus von San Bernardo langsam seinen Weg. Die Gasse ist so eng, dass man oft Angst haben muss, die Kreuzbalken würden an einem offenen Balkonfenster oder Gitter hängen bleiben. Doch alles geht gut und ergriffene Blicke folgen dem Paso, als er um die Ecke biegt.

Auf die Madonna können wir nicht warten, denn um 17.00 sind wir auf der Plaza de San Lorenzo mit den anderen verabredet, um dort der feierlichen Prozession der Franziskaner-Bruderschaft Buen Fin zu harren. Kaum angekommen, setzt Angélica sich auf ihren Klappstuhl, blickt zum Himmel und bemerkt in die Runde: „Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags, eigentlich müsste es doch nun anfangen zu regnen – wie an den letzten drei Tagen…“ Böse Blicke treffen sie, wandern nach oben und hellen sich auf. Dieser Mittwoch scheint ein perfekter Semana Santa Tag zu werden, ganz ohne Regen und mit allen neun Prozessionen. Wie schon 2011. Cayetana schlägt vor, da ja im ganzen letzten Jahrzehnt der Mittwoch stets der einzige „perfekte Tag“ war, sollte man die wichtigsten Prozessionen der Madrugá (Karfreitagnacht) lieber gleich auf Mittwoch verlegen. Eine wilde Diskussion begleitet diesen gewagten Vorschlag.

Cayetana beteiligt sich nicht, ist ganz still geworden und starrt wie in Trance auf die Prozession. Ihre Blicke und ihre Kamera richten sich aber nicht auf die „Jungfrau der Palme“, sondern auf einen glutäugigen Kerzenträger, der vor der Madonna schreitet. „Aber den hast Du doch schon vor zwei Jahren wie wild fotografiert“, bemerkt Manuel. „Ja, und da hat er mir noch besser gefallen, weil er ohne Bart noch hübscher war“, entgegnet sie, fotografiert ihn aber weiterhin. Alle anderen Zuschauer fangen mit ihren Kameras den Blütenregen ein, der von Balkonen auf den Baldachin der Madonna herab rieselt.

In der Straße San Vicente treffen wir endlich auch Theresa und Regina, die sich wieder sehr beliebt machen, indem sie selbst gemachte Mini-Torrijas verteilen, mit reichlich Servietten, weil die Wein-Honig-Soße überall herunter tropft. Hier ziehen die drei Pasos der Bruderschaft Siete Palabras vorbei. Inzwischen ist die Dämmerung angebrochen und die blaue Stunde passt farblich gut zur silbern glänzenden Altarbühne, auf der Christus sein Kreuz trägt. Als sich der silberne Baldachin der Madonna nähert, murmelt Regina mit spöttischem Lächeln: „Da kommt die kleine Transvestitin…“ Ich zische sie an, das um Himmels willen nicht laut zu wiederholen, denn neben uns könnten Mitglieder der Bruderschaft stehen und niemand weiß, wie sie auf eine solch ketzerische Bemerkung reagieren. Obwohl Regina recht hat, denn diese Jungfrau war früher ein Engel und wurde vor einigen Jahrzehnten in eine Madonna „verwandelt“.

San Bernardo [zoom]
El Baratillo [zoom]

Um 10 Uhr abends genießen wir das großartige Szenario auf dem Platz des Triumphes zwischen der Kathedrale und den tausendjährigen Mauern des Alcázar. Kerzenflammen erhellen die blau schimmernden Gewänder der Nazarenos der Prozession von El Baratillo, die an uns vorbei zieht. Ergreifend wie immer die wunderschöne Pietà, die alle Blicke und Kamerablitze auf sich zieht und unter den Klängen eines pathetischen Trauermarsches an den Burgmauern entlang gleitet. Da bahnt sich plötzlich eine Gruppe soeben ausgewechselter, verschwitzter Träger einen Weg durch die Zuschauer. Dabei stößt einer von ihnen, natürlich der Schönste, mit Cayetana zusammen und lächelt kurz. Völlig verzückt blickt sie ihm nach. Er trägt ein blaues Muscle-Shirt und auf seinem Trizeps prangt unübersehbar ein Tattoo, das den Giraldillo zeigt (die Bronzestatue, von der die Giralda bekrönt wird). „Er hatte ganz weiche Haut“, schwärmt sie.

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Nach Mitternacht erwarten wir zum krönenden Abschluss eines perfekten Tages den Cristo de Burgos auf dem gleichnamigen Platz, der in völliger Finsternis liegt. Nur unruhig flackernde Kerzen und Blitzlichter erleuchten den alten Christus, ein kostbares Kunstwerk von 1573. Wie schon im letzten Jahr singt Manuel Cuevas zwei Saetas, die derart ergreifend sind, dass das Publikum auf dem Platz zu den Taschentüchern greifen muss. Und – so kommentiert Manuel – abermals war die Saeta für die Madonna noch herzzerreißender als die für den Christus.
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Die Nacht verabschiedet sich mit einem mystischen Höhepunkt. Und Cayetana murmelt etwas von „Facebook“, um nach dem tätowierten Träger zu suchen.

Gründonnerstag, 05. April 2012
Ein Trauerspiel mit eleganten Kostümen. Wie schon im letzten Jahr. Unter Regenschirmen wandern wir von Kirche zu Kirche, um die Pasos zu betrachten, die schon zwei Jahre lang nicht mehr lebendig wurden in den Straßen von Sevilla. Zum Trost gönnen wir uns San Marco Torte im Nobel-Café „Alarbardero“. Christina fragt Cayetana, ob sie dazu ein Tässchen Kakao trinken wolle. „Nein“, lautet die frustrierte Antwort der 20-jährigen. „Eher einen Cardenal Mendoza (spanischer Cognac)!“

La Madruga (Karfreitagnacht), 06. April 2012
Kurz nach Mitternacht. Es hat tatsächlich aufgehört zu regnen. Seit Stunden sitzen wir vor dem Fernseher und verfolgen Wetterprognosen und Interviews mit den Großmeistern der sechs Bruderschaften dieser magischen Nacht Sevillas, die 2011 zum ersten Mal seit fast anderthalb Jahrhunderten komplett ausgefallen war. Kaum auszudenken, was für eine Katastrophe es für die Stadt wäre, falls dies nun ein zweites Jahr in Folge passierte. Eine halbe Stunde später – Manolo und Cayetana sind schon auf dem Sofa eingeschlafen – wird die erlösende Nachricht verkündet: die Macarena, Esperanza de Triana und auch alle anderen vier Prozessionen werden stattfinden! Im Fernsehen sieht man die riesige Menschenmenge vor der Kirche der Macarena. Und dann öffnet sich das Tor und die weiß und violett gewandeten Nazarenos strömen heraus in die kalte Nacht.

La Macarena [zoom]
La Macarena [zoom]

 

La Macarena [zoom]
La Macarena [zoom]

Christina und Manuel rufen uns an, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Aber wir sind zu müde nach diesem Regentag. Carmen, Cayetana und ich beschließen, lieber früh aufzustehen als jetzt noch los zu ziehen (Angélica hat die Semana Santa ohnehin schon für sich als beendet erklärt). Durch unseren Schlaf der Gerechten verpassen wir die drei Schweigebruderschaften El Silencio, Gran Poder und El Calvario. Um halb sechs klingelt der Wecker und wir laufen zur Kathedrale. Wir kommen gerade rechtzeitig mit den ersten Sonnenstrahlen an, um den Auszug der Esperanza de Triana aus der Kathedrale zu bestaunen.

Das erste Sonnenlicht in dieser verregneten Semana Santa erleuchtet die Prozession und lässt das Gesicht der Madonna aus Triana in überirdischer Schönheit erstrahlen. Besonders Manuel, Christina und Cayetana, die Mitglieder der Esperanza de Triana sind, können sich von diesem Anblick kaum losreißen. Carmen, Manolo, Regina und ich – die „Macarena-Fraktion“ – müssen energisch zum Aufbruch ans nördliche Ende der Altstadt mahnen, um früh genug an der arabischen Stadtmauer anzukommen, wo die Macarena-Prozession wieder in ihre Kirche einzieht. Denn aufgrund der erneut schlechten Wetterprognosen haben alle Prozession ihren Zeitplan reduziert und die Macarena zieht nicht wie üblich durch die zentralen Gassen ihres Viertels, sondern hat spontan den Weg verkürzt, um vor dem drohenden Regen ihre Kirche zu erreichen.

Esperanza de Triana [zoom]
La Macarena [zoom]

Das hat für uns den Vorteil, dass um 10 Uhr am Macarena-Tor erstaunlich viel Platz ist, weil viele Zuschauer, die kein Radio hören, noch in den Gassen warten, wo heut gar keine Prozession vorbei kommt. Eine Stunde früher als angekündigt wird der Paso mit der Christusstatue der Macarena durch das Tor getragen. Inzwischen haben sich doch ein paar Tausend Zuschauer eingefunden, um den von der Morgensonne angestrahlten Christus mit den maurischen Gesichtszügen zu begleiten, bis er hinter dem Gitter des Kirchenportals verschwindet. Ihm folgt das karnavaleske Element der Karwoche Sevillas: die geballte Formation der römischen Legion „Centuria Macarena“ schreitet mit silberner Standarte und wehenden Straußenfedern durch das Stadttor. Vor der Kirche angekommen, küssen sich die hundert als Römer verkleideten Sevillaner. Jeder umarmt und küsst jeden (auf die Wange), das dauert ziemlich lange. Als er Christinas erstaunten Blick sieht, beschwichtigt Manolo sie lächelnd: „Nein, nicht das was Du denkst… sie beglückwünschen sich einfach nur nach der gelungenen Prozession, so wie Fußballspieler nach einem Tor…“

Vor uns steht ein Ehepaar spanischer Touristen, dem Akzent nach aus Valencia. Sie studieren nervös das Semana Santa Programm mit dem Zeitplan und plötzlich fragt die Dame einen jungen einheimischen Macarena-Anhänger (er trägt wie ich die Medaille der Bruderschaft): „Entschuldigen Sie, junger Mann, glauben Sie, wir haben Zeit genug, um da vorn am Kiosk eine Flasche zu kaufen, bevor die Jungfrau hier ankommt?“ Der junge Macareno, sehr cool mit edler Sonnenbrille und modischem lila Schal, legt der Touristin die Hand auf die Schulter und verkündet dann feierlich: „Gute Frau, bevor hier unsere Macarena ankommt, haben Sie Zeit, nach Hause zu fahren, sich in aller Ruhe eine köstliche Paella zu kochen und sie sogar aufzuessen, und wenn Sie dann zurück kommen, lässt unsere Jungfrau vielleicht immer noch auf sich warten, wie alle schönen Frauen.“

Das Gelächter der umstehenden Zuschauer ist so laut, dass die Ärmste den letzten Teil der barocken Antwort kaum noch versteht. Aber jeder, der die Macarena-Prozession mehr als einmal gesehen hat, weiß natürlich, dass zwischen den Pasos von Christus und Madonna mehr als zweitausend Nazarenos und mindestens anderthalb Stunden liegen. Deshalb warten wir nicht hier, sondern gehen ihr ungeduldig entgegen. In der Calle Feria haben Bewohner nur provisorisch die Balkone schmücken können, da erst vor zwei Stunden die Routenänderung bekannt gegeben wurde. Trotzdem regnen reichlich Rosenblätter herab. Und wie immer versetzt das unverwechselbare, geheimnisvolle Gesicht der Madonna alle in Entzücken. Cayetana bemerkt, es sei schade, dass das Gesicht der Macarena nicht von der Sonne erleuchtet würde wie vorhin das der Esperanza de Triana (die Sonne steht schon zu hoch und dringt nicht durch den Baldachin).

Los Gitanos [zoom]
Los Gitanos [zoom]

Obwohl wir alle noch müde sind und uns der kalte Wind zu schaffen macht, drängt Carmen zum Endspurt, denn wir wollen unbedingt zum ersten Mal seit Jahren wieder der Zigeuner-Prozession beiwohnen. Wir rennen los und drängen uns durch die Menge, bis wir in der Gasse Escuelas Pias einen Platz in der ersten Reihe erobert haben.

Ein ganz kleiner Nazareno, vier oder fünf Jahre alt, verteilt „estampitas“ (Madonnenbildchen) ans Publikum. Ich schlage ihm einen Tausch vor: einmal Zigeunermadonna gegen Macarena. Er nickt sofort, hinter der lila Maske kann man sein Lächeln nur vermuten.

Die Sonne strahlt, als würde es nie wieder regnen. Da nähert sich schon die „Jungfrau der Todesängste“ (so der offizielle Name der Zigeuner-Madonna), eine Schönheit mit besonders langen Wimpern und edlem, königsblauem Mantel. Die hohen, vor ihr aufgetürmten Wachskerzen haben sich zu bizarren Stalaktiten verformt. Plötzlich beginnen die unsichtbaren Träger unter dem Paso zu singen. Sie bringen ihrer Jungfrau ein Ständchen, nicht opernhaft, aber sehr leidenschaftlich gesungen.
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Dann schleudern sie für den Endspurt den Paso so impulsiv nach oben, dass die Krone der Madonna erzittert. Carmen kommentiert: „Die haben wohl gerade einen Energizer gespritzt bekommen.“ – Den hätten wir am Nachmittag gut gebrauchen können.

Karfreitag, 06. April 2012
17:00 Uhr Alle liegen zur Siesta auf Betten oder Sofas. Hatte ich schon erwähnt, dass es wieder regnet? Fünf Prozessionen werden abgesagt. Um 1 Uhr nachts raffen wir uns auf, um wenigstens La Mortaja, die wichtigste Prozession des Tages, vor ihrem Rückzug in die Kirche zwischen den Orangenbäumen zu erwarten. Danach treibt uns ein feuchtkalter Wind ins Bett.
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Karsamstag, 07. April 2012
18:00 Uhr: Heute überflutet Sonnenlicht statt Regenwasser die Stadt. Es ist deutlich wärmer und ganz Sevilla ein Frühlingsfest. Unfassbare Menschenmassen überall, sogar die Prozession von El Sol, einer neuen Bruderschaft, die noch nicht zu den Publikumsmagneten gehört, wird von Tausenden begleitet, als sie aus der Kathedrale kommt.

Danach spazieren wir durchs Barrio Santa Cruz und genehmigen uns ein paar köstliche Tapas im „Estrella“. Um 10:00 Uhr abends, als die Prozession von La Trinidad an uns vorbei zieht, fragt ein Kind beim Anblick des allegorischen Paso, der die Dreifaltigkeit, Kirche und Glauben symbolisiert: „Papa, was bedeuten die Figuren?“ Angesichts der Erklärungsnöte des Vaters greift Manuel, unser Kunsthistoriker, ein und erklärt dem Kind den Sinn der Symbolfiguren. „Und wer ist die schlafende Frau?“, insistiert die Kleine. „Die Kirche“, antwortet Manuel, und Regina beeilt sich hinzuzufügen: „Ja, die Kirche verschläft im Moment so einiges…!“

Ostersonntag, 08. April 2012
4.00 Uhr. Cayetana hat ganz entgegen ihren Gewohnheiten in der Osternacht keine Diskothek besucht, sondern sich schlafen gelegt und den Wecker auf 4:00 Uhr gestellt – um „ausgeschlafen für den Auferstandenen“ zu sein, wie sie meint. „Ich glaube, sie wird langsam erwachsen…“, kommentiert Manuel mit spöttischem Grinsen. (Und: seit Tagen denkt sie nur noch an den Träger des Giraldillo-Tattoos und will im Moment niemand anderen kennenlernen).

Jedenfalls schafft sie es tatsächlich, so früh aufzustehen und ich verliere meine Wette. Damit kann sie als einzige nächtliche Fotos dieser Prozession präsentieren, während alle anderen sie heute Mittag sehen.

Als wir sie für ihre Fotos loben, besonders für eines, das den Schatten eines Nazarenos zeigt, meint sie nur, dass Manuel wie immer das beste Foto dieser Semana Santa geschossen habe – und ein symbolträchtiges für diese regenreiche Woche dazu: die Giralda gespiegelt in einer Pfütze.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg + Vicente Camarasa

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Volberg, Berthold
Sevilla – Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. – 16 x 25 cm

Von Berthold Volberg sind zur Semana Santa in Sevilla folgende Artikel erschienen:
[Es ist vollbracht: Der Karsamstag in Sevilla]
[Zwischen strahlendem Barock und düsterer Mystik: Der „Heilige Montag“]
[Die Passion in Sevilla: Der „Heilige Mittwoch“]
[Der Karfreitag in Sevilla: Ein Andalusisches Requiem]
[Der Tag der Himmelsköniginnen – Palmsonntag in Sevilla]
[Goldrausch in Sevilla: Gründonnerstag der Semana Santa]
[Semana Santa in Sevilla – Die Geheimnisse der Madrugá]

Und die nicht ganz ernst gemeinten Chroniken der Semana Santa:
[Regenschirme statt Madonnen-Baldachine – 2011]
[Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel – 2010 / Teil 1]
[Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel – 2010 / Teil 2]
[Ostermorgen in Sevilla – 2008]
[Madonnenbildchen über Madonnenbildchen in Sevilla – 2008]
[Heilige Nacht mit Guaraná – 2007]