Wo man singt… (06/2010)

Musik aus den verschiedenen Ländern des spanischsprachigen Raums, vor allem vokale, hat oft panhispanischen Charakter: d.h. Liedermacher wurden und werden in allen Ländern gleich gerne gehört; dies gilt für schmalzige Boleros von Agustín Lara aus Mexiko ebenso wie für zackige Tangos von Carlos Gardel. Und damit wären wir mitten drin im Thema dieser kleinen Anthologie aus der „Roten Reihe“ von Reclam, die uns Texte verschiedener Liedgattungen der Populärmusik aus Spanien und Lateinamerika vorstellt. Der Herausgeber wendet sich im Vorwort ausdrücklich an Spanischlehrer als Zielgruppe, denen er Zugang zur hispanischen Populärmusik verschaffen will, um sie im Unterricht verwenden zu können. Aus eigener Erfahrung kann ich die Wichtigkeit dieses Vorhabens nur unterstreichen, fällt der Sprachunterricht ohne den Einsatz von Musik, Filmen etc. doch oft sehr trocken aus. An Ort und Stelle werden auch die Kriterien genannt, nach denen die Liedtexte ausgewählt wurden und am vorhandenen Material gibt es nichts zu kritisieren, am nicht-vorhandenen hingegen schon…, aber dazu später.

Hartmut Nonnenmacher (Hrsg.)
Tango, Bolero, Copla… Canciones populares modernas de España y de Hispanoamérica
Reclam Verlag
159 Seiten
5.00 EUR

Hartmut Nonnenmacher hat sich nicht wahllos für die vorgestellten Lieder entschieden, sondern sich auf fünf Genres beschränkt, die wohl zu den beliebtesten in der spanischsprachigen Welt zählen: Tango, Bolero, Corrido, Copla und Canción. Zu jedem Genre schreibt er einführende Texte, die einen historischen Überblick liefern sowie vertiefende Erklärungen zu den ausgewählten Stücken. Dabei geht Nonnenmacher auf in Deutschland weniger bekannte Details ein, wie zum Beispiel die Verwendung berühmter Boleros in den Filmen von Pedro Almodóvar oder die Entstehung der Narcocorridos, deren Texte sich vor allem um illegale Einwanderer in den USA, oder die Drogenproblematik drehen. Dabei stellt er Verbindungen zur Literatur her, erzählt von der Verwendung und damit verbundenen Wiederentdeckung der Copla in Kinofilmen und geht auf die spezielle Sprache des Tango ein. Die Vokabellisten zu den einzelnen Liedtexten sind sehr hilfreich, denn sonst hätte man größere Schwierigkeiten, sich die Bedeutung von el barrial (argentinisch für Lehmboden) oder la milpa (mexikanisch für Maisfeld) uvm. zu erschließen.

Auch wenn Nonnenmacher immer wieder Bezüge zur modernen Welt herstellt, wird die Auswahl der Lebenssituation von heutigen Jugendlichen/Schülern jedoch weniger gerecht. Denn im Kapitel „Canción“ stammen die „modernsten“ Texte von spanischen Bands wie „Alaska“ oder „Radio Futura“ aus den 1980er bzw. 90er Jahren. Natürlich wird immer jemand bemängeln, dass in einer solchen Auswahl dies und jenes fehlt. Aber bei einer im Jahr 2009 erschienenen Sammlung, die sich zumal an junge Leute richtet – denn die werden ja von den eingangs erwähnten Lehrern mit den Texten geschult oder bespaßt – erwarte ich, dass sie auch einige topaktuelle Texte enthält, von Stücken, die nach der Jahrtausendwende bei der Jugend angesagt waren bzw. sind. Da muss einfach etwas aus der lateinamerikanischen Ska-Bewegung dabei sein oder aus der pulsierenden Mestizoszene Barcelonas.

Dass sie fehlen, kann nicht an den Texten liegen, sind sie doch oft sehr originell und politisch. Nur so könnte die im Vorwort zitierte „Massenwirkung“ der Texte der Populärmusik bei den deutschen Jugendlichen vielleicht eintreten, die mit Namen wie Desorden Público oder Orishas sicher mehr anfangen können als mit Agustín Lara. Ohne zeitgenössische Rock- und Rap-Texte bleibt das Panorama dieser „Klammer“ des hispanischen Kulturraums unnötigerweise unvollständig. Und auch eine längere Literaturliste hätte gut getan (zumindest die zweite Seite hätte man noch mit nützlichen Hinweisen füllen können).

Wem dieses Minus egal ist oder wer einfach Spaß daran hat, sich einen Teil der iberoamerikanischen Kulturgeschichte zu erschließen und wunderbare Liedtexte zu studieren, der sollte zugreifen. Denn dieser Band bleibt eine tolle Einführung ins Thema, vor allem, wenn man den unschlagbaren Preis bedenkt.

Cover: amazon