Urlaub mal nicht anders

Es gibt Reisen, auf denen du Abenteuer erlebst. Reisen, auf denen du dem Tode ins Auge blickst. Reisen, auf denen du über die Welt lernst oder die Liebe deines Lebens findest. Reisen, auf denen du neue Wege entdeckst, du selbst zu sein, Reisen, die deinen gesamten Ausblick aufs Leben verändern. Ganz besondere Reisen, die du nie mehr vergisst. Die nicht wiederholbar sind. Die dir niemand mehr nehmen kann. Und es gibt Pauschalreisen.

Ein deutsches Paar in Badekleidung, große Handtücher von den Armen baumelnd, bahnt sich den Weg zwischen Liegestühlen zum Schwimmbecken. „Bomm dia“, erklärt er ihr. „Bomm dia?“, fragt sie. „Ja, alles mit Bomm. Bomm dia, Bomm tardes…“ Das Hotel liegt auf einer roten Klippe über der Praia da Falésia in der Algarve, einem schönen, ewig langen Sandstrand, der nur dadurch weniger schön wird, dass auf jeder zweiten roten Klippe verschieden große Geschwister des Hotels mit ihren tausend Fenstern übers Meer glotzen. Ein heftiger Wind hat die Wolken des Vormittags zum Teufel geblasen, die Sonne strahlt aus einem vanillegestreiften Himmel auf eine Handvoll halbnackter Leiber in verschiedenen Rötungsstadien, die sich um den Pool herum verteilt haben.

Ich dagegen liege im Zimmer 309 im Ehebett. Mit einem Mann. Der Fernseher läuft und erzählt uns die wichtigsten Informationen aus der Heimat, genauer: Eine große blonde Frau im knappen Abendkleid erzählt von den größten Highlights aus den Talkshows der letzten Tage.

Warum zur Hölle bin ich nicht draußen an der frischen Luft, wenn ich doch offenbar im Urlaub bin und die Sonne scheint? Und was für eine verrückte Geschichte hat mich, Weltreisenden und Abenteuerforscher von Rang und Namen, in diese Situation gebracht? Antwort 1: Weil ich im Urlaub bin und verdammt nochmal machen kann, wonach mir der Sinn steht. Antwort 2: Keine, oder fast keine. Ein großzügiger Reisegutschein von einer wohltätigen Organisation, ein paar Tage Zeit und ein guter Freund mit Urlaubsbedürfnis – das waren die Rahmenbedingungen für meine Entscheidung, mal einen Urlaub zu machen, den ich mir sonst nicht leisten können noch wollen würde. Nur so war es mir möglich, nach meinem ersten Besuch in Portugal das Land mit genauso wenig Wissen über Land, Leute und Kultur wieder zu verlassen, wie ich es betreten hatte.

Schon unsere Ankunft am Check-In-Schalter führte zu einer schwer beschreibbaren Veränderung in der blitzblanken Atmosphäre des glitzernden Foyers, etwas, das wir als Knacken in den Ohren wahrnahmen oder als kurzes Zucken in den Augenwinkeln. Es hat uns eine Weile gekostet, zu verstehen, was vor sich gegangen ist, aber inzwischen bin ich ziemlich sicher, dass es sich um den Altersdurchschnitt der Hotelgäste handelte, der in diesem Moment mit einem Male sank wie das Gegenteil einer Springflut. Aus jahreszeitlichen Gründen war das Etablissement vielleicht zu einem Viertel ausgelastet, und zwar nahezu ausschließlich mit Rentnerpaaren, manche einzeln, andere in überschaubare Reisegruppen zusammengefasst.

Die Rentner verbrachten die Tage mit allerlei Aktivitäten: Bingo, Wassergymnastik, Animation und anderen wilden Dingen. Wir verbrachten gerne die eine oder andere Sonnenstunde vor dem Fernseher im gemeinsamen Bett (man hatte uns ungefragt ein Zimmer mit Doppelbett zugeteilt), aus Trotz gegen die Konventionen eines traditionellen Pauschalurlaub-Ablaufs. Wenn der Minibar-Nachfüller klopfte, musste er des öfteren den einen oder anderen Augenblick warten, bis sich einer von uns zur Tür bequemt hatte, um ihm zu öffnen. Ich bin sicher, dass bald das gesamte Hotelpersonal voller Zuneigung vom netten schwulen Pärchen aus Zimmer 309 sprach. Die zwei Typen, die soviel Zeit miteinander auf ihrem Zimmer verbringen. Ach, sind das nicht auch die, die zum Buffet immer nur eine Mineralwasserflasche bestellen und teilen, weil sie für richtige Getränke zu geizig sind? Ja, genau die, José! Die ihre Teller immer sechsmal hintereinander mit nicht zueinander passenden Nahrungsmitteln beladen, um ja nichts zu verpassen? Und die sich dann immer ganze Arme voll Obst mit aufs Zimmer nehmen, weil’s umsonst ist und man ja nie weiß, wann der kleine Hunger kommt? Ja, richtig. Die. Mensch, Manoel, die hab ich gestern Abend im Wellness-Bereich im Keller gesehen, ganz alleine waren sie da, haben stundenlang zusammen im Whirlpool gesessen, als hätten sie sonst nichts zu tun. Ganz, ganz niedlich.

Nun war es ja nicht so, dass wir nicht versucht hätten, auch etwas von der Umgebung mitzubekommen. Voller Tatendrang bestiegen wir eines Morgens unsere frischgemieteten Fahrräder, um ein bisschen ins Grüne zu fahren. Das Grüne gefunden haben wir nicht, bloß eine Stadtautobahn und viele Baustellen, die eines Tages einmal Hotels werden wollen. Und nach einem langen Tag im Sattel und unzähligen falsch genommenen Abzweigungen schließlich eine schöne Altstadt mit einem guten Mittagessen und zu guter Letzt einen kleinen, geheimen, hübschen Strand, versteckt hinter einer noch nicht ganz fertig gestellten Feriensiedlung. Eigentlich ein gelungener Tag, aber am Ende hätten wir fast um ein Haar das Abendbuffet verpasst, und das war ein Risiko, das wir unmöglich noch einmal eingehen konnten. Also blieb es bei diesem einen Ausflug. Man muss Prioritäten setzen.

Ich hatte gehofft, mein eingerostetes Portugiesisch ein wenig auffrischen zu können, aber jeder sprach mich auf Deutsch an. Ich wollte früh aufstehen und am Strand laufen gehen, aber ich war zu verdammt faul. Ich wollte kreativ sein und die Zeit zum Schreiben nutzen, aber ich hatte keinen Stift zur Hand und wollte dafür jetzt wirklich nicht extra aufstehen.

Immerhin: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Tennis gespielt, in einem Drahtkäfig umgeben von gepflegtem Rasen mit weißen Plastikliegen, auf denen halbnackte Rentner lagen und uns milde interessiert beäugten. Ich habe ein ums andere unerbittlich geführte Boule-Turnier gegen meinen Reise- und notwendigerweise auch Bettgefährten mit Bravour gewonnen. Ich habe ein gutes Buch gelesen. Wir haben bei zahllosen Spaziergängen an unserem Hausstrand restlos alle auch nur annähernd ansehnlichen Schalentiere aufgesammelt und als Souvenirs an den ereignislosesten Urlaub aller Zeiten mit nach Hause genommen. Ich habe einen ganz eigenen Mikrokosmos kennen lernen dürfen, der nach eigentümlichen Regeln funktioniert und in dem ich nicht weniger als Fremdkörper aufgefallen bin als damals unter Indianern in Brasilien.

Trotzdem: So bald muss das nicht noch einmal sein. Es sei denn, es findet sich eine weitere wohltätige Organisation, die mich mit einem Reisegutschein versehen möchte. Falls eine solche diesen Text lesen sollte: Bitte wenden Sie sich an die unten angebebene Emailadresse. Danke.

Oder aber wenn ich Rentner bin. Dann sitze ich am Abend silberhaarig in der Hotelbar und die Showband Focus („Music to Dance“) steht auf der Bühne und spielt die alten Lieder, die mich so schön sentimental werden lassen. Der Dicke an der Gitarre hat eine etwas dünne Stimme und einen schweren spanischen Akzent in seinem Englisch und der Dünne am Keyboard verfehlt hin und wieder eine Taste, aber die Musik erinnert mich an viele Dinge in meinem langen Leben. Schließlich kommt „I still got the Blues for you“, ich nehme die Hand meiner Frau und wir tanzen, bedächtig und langsam, und der Dicke spielt das Solo fast genauso wie Gary Moore. Ich denke daran, wie meine Frau eben noch ausgelassen und nicht ganz nüchtern lauthals mit Focus und uns allen mitgegrölt hat: „Alice – who the f*ck is Alice!“, und ich muss lächeln.

Fotos: Michael Schmitz