Tango. Geschichte und Geschichten. (Buchrezension)

Borges faszinierten die Compadritos der Vorstadt von Buenos Aires Ende des 19. Jahrhunderts, jene großmäuligen Männer, die ihre Virilität über den „Kult des Mutes und der Messer“ auslebten, so Arne Birkenstock und Helena Rüegg in ihrer Tangogeschichte. Die beiden Tangomusiker gehören zu den wenigen Autoren, die sich innerhalb der schier ausufernden Literatur zu und über den argentinischen Tango mit der zwiespältigen Beziehung Jorge Luis Borges zum Tango beschäftigen. Borges prägte als Übervater der neueren argentinischen Literatur die phantastische Kurzgeschichte und den Essay und erneuerte diese durch seine extrem belesene, intellektuelle und verkürzende Schreibweise. In mehreren frühen Essays und Kurzgeschichten thematisiert Borges den Mythos der Messerstecher und Gauchos, in deren Umgebung die ersten Tangos und Milongas entstanden sein sollen.

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In Geschichten wie, „Hombre de la esquina rosada“, „Sur“, „El fin“ und „Historia del tango“ erzählt er von den wahren Helden der Vorstädte. Kreolische Gauchos, die durch die Urbanisierung Ende des 19. Jahrhunderts an den Stadtrand der Metropole gespült wurden frönten hier ihren dumpfen Tapferkeits- und Männlichkeitsidealen. Die Instrumente der Compadritos waren die Gitarre, die Stimme und das Messer; die bei Festen und bei Kämpfen zur Schau gestellt wurden.

Borges wußte, daß seine Version der Entstehung des Tangos wenig mit der weitverbreiteten Meinung zu tun hatte, daß nämlich der Tango in den Mietskasernen der Einwanderer, den sogenannten Conventillos entstand und hauptsächlich von den italienischen, spanischen und deutschen Immigranten geprägt wurde. Durch die mitgebrachte Musik, den Tango Andaluz, die Habanera und die berühmte Konzertina, dem Bandoneon des Krefelder Musikinstrumentenbauer Band, formte sich der ursprüngliche Tango.

Dem verruchten Tango der Bordelle, Zuhälter und Prostituierten, die von ihrer unglücklichen Liebe, von Betrug, vom Verlassenwerden und dem Tod in ihren Tangotexten erzählen, hielt Borges die kreolische Milonga und den urtümlichen Sängerwettstreit der Gauchos entgegen. Für ihn war der durch die Tangoeuphorie im Europa der 20 er Jahre stilisierte, elegant-anrüchig gekleidete Tanguero eine geckenhafte, verweichlichte und weinerliche Figur, die nichts mehr mit den wahrhaft männlichen Gitarren- und Messerhelden der ärmlichen Randgebiete von Buenos Aires gemeinsam hatte.

Die Texte der Tango-Canción ab 1917, der Goldenen Ära (Guardia Nueva) mit Stars wie Carlos Gardel, Enrique Santos Discépolo und Enrique Cádicamo veränderten rückwirkend durch den Tango-Hype in Pariser und Berliner Salons die Musikszene in Buenos Aires. Schneidig tanzende, elegant gekleidete Herren mit gelackten Haaren und feingliedrige Damen mit hochhackigen Schuhen, die vormals als obszön verpönt waren, wurden ab den 20er Jahren auch in Argentinien salonfähig. Damals, als ganz Europa den Tanz der Unterschicht und Kleinkriminellen chic fand und als den letzten Schrei deklarierte, boomten auch auf den bonarenser Boulevards die Tangocafés, Salons und Cabaretts.

In dieser Zeit wandte sich Borges vom Tango ab, den er als Modeerscheinung verhunzt sah. Erst 1965, knapp 35 Jahre nach seinen ersten Essays, veröffentlichte er elf Milongatexte in der Sammlung „Para las seis cuerdas“. Diese Hymnen an die Compadritos, beispielsweise an den Lokalmatadoren von Palermo (einem der ehemaligen Vororte von Buenos Aires) Don Nicanor Paredes strotzen von einsamen Männern die bereit sind, im Messerkampf zu töten oder zu sterben. Astor Piazolla vertonte im selben Jahr die Milongas. Borges hielt weiterhin nichts vom Klischee des Tangos als „dem traurigen Gedanken den man tanzen kann“. Die melancholische Eleganz, die die Europäer so liebten und lieben war ihm zuwider.

Arne Birkenstock und Helena Rüegg halten Borges als zitierwürdigen Tangokundigen aber in seinen Schranken und gewähren ihm nur ein kleines Kapitel innerhalb der knapp 300 Seiten Tangogeschichte. Chronologisch ordnen sie den unterschiedlichen Strömungen und Entwicklungen des Tangos Musiker, Sänger und Komponisten zu. Von den Anfängen bis zur Guardia Vieja (1880-1917), von der Guardia Nueva bis zum Ende der Goldenen Ära (1917-1955), vom Tango Nuevo zum Tango der Gegenwart (1955-2000) werden alle wichtigen Tangueros und ihre Musik vorgestellt. Für alle tanzwütigen Tangoliebhaber/innen werden Fakten, Fakten, Fakten geboten. In Hunderten von Post- und Internetadressen erfahren die Leser, wo sie Tango tanzen, lernen und hören können.

Als Ergänzung für die Ohren liegt dem Buch zudem eine sorgfältig ausgewählte Tango-Compilation bei, die neben bekannten Klassikern wie „El choclo“, „Mi Noche triste“, „Volver“ und „Che Bandoneón“, Highlights wie eine Aufnahme von Roberto Goyeneche und Adriana Varela bieten, die genial wie nie die „Balada Para un Loco“ singen und schreien.