Mexiko: Covid-Krise spitzt sich zu

Zwölf Tage auf Holbox zwischen Ceviche und wilden Tieren

13. März

Heute ereilt uns die Nachricht, dass die Schulen in Berlin in der kommenden Woche sukzessive schließen werden. Noch am gleichen Vormittag folgt das erste Update. Oberstufenschüler*innen haben bereits ab Montag frei. Nachmittags dann die Gewissheit für alle anderen: Ab Dienstag schließen die Schulen in Berlin ohne Ausnahme. Schulstart sei nach den Osterferien.

Was für eine Wahnsinnschance bietet sich da?, ist mein erster Gedanke. Jetzt müssen wir nur noch die Lufthansa überzeugen, dass sie unseren geplanten Flug nach Mexiko vorverlegt.

Touren Holbox 2020

14. März

Gabi, Corazón, Horst und Manni (Namen geändert) kommen zum Taco-Essen. Während der Vorbereitung beginnt die Odyssee des Umbuchens. Nach endlichen Versuchen endlich in der Warteschleife. Nach 58 Minuten – Juhuuu! – ein Mensch am anderen Ende des Apparats:
OK, umbuchen! Nur den Hinflug. Neues Datum ist der 17.03.2020. Rascheln, tippen. Drei Minuten später: Ja, ist möglich. Kostet 3,84 Euro pro Ticket. Ah Moment, darf ich ihnen kurz Musik einspielen. Noch bevor ich ja oder nein sagen kann, ertönt Gedudel am anderen Ende des Apparats. Nach drei Minuten werde ich unruhig. Nach sechs Minuten nervös. Nach neun Minuten sende ich Stoßgebete durch die Leitung. Nach 12 Minuten ist die Leitung tot. Alles auf Null.

Ich versuche es noch eine Stunde lang, dann kommen die Taco-Gäste. Nach der ersten Taco-Runde schildern wir unseren Plan:
Dienstag sind wir weg. Kommt ihr mit?
Corazón hatte mit den Kids geplant, nach El Salvador zu ihren Eltern zu fliegen. Aber bereits vor gut einer Woche hatte El Salvador die Grenzen dicht gemacht. Der Flug war annulliert worden. Mannis Trip nach Israel: ebenfalls abgesagt. Israel war das erste Land, das sowohl Deutschen als auch Italienern die Einreise verweigerte. Noch vor El Salvador. – Es rattert im Familienhirn.

Ab 23 Uhr wähle ich wieder Lufthansa. Nachdem ich es mit dem ersten Handy in die Warteschleife geschafft habe, versuche ich es auch mit dem zweiten. Vergeblich. Um 0.30 Uhr nehme ich die Warteschleife mit ins Bett. Einen halbe Stunde später, nach zwei Stunden in der Schleife schlafe ich ein. Schade.

15. März

Um 2.34 Uhr erneutes Anklopfen bei der Lufthansa-Hotline und dann wieder um 6.35 Uhr. Und von da an im Halbstundentakt. Noch zwei Mal schaffe ich es, jemanden an das Telefon zu bekommen. Zwei Mal werde ich trotz heftigstem Protest in die Musik-Schleife gelegt. Zwei Mal ist in der Musikschleife nach gefühlten zwei Stunden, aber realen 14 Minuten Ende, Schluss, Aus. Dann wähle ich die Option Englisch. Nach zwei Stunden ein extrem kompetenter und vor allem auf Effektivität getrimmter Mitarbeiter. Dem Akzent nach zu urteilen vielleicht mittlerer Osten oder Indien?
600 Euro? OK!
Nach zwei Minuten ist unser Hinflug in knapp 36 Stunden bestätigt.

16. März

9.45 Uhr: Ich will uns einchecken und die Sitzplätze auswählen.
Bitte versuchen Sie es 24 Stunden vor Abflug erneut.
Um 9.45 Uhr am darauf folgenden Tag geht unser Flieger. Also in 24 Stunden. Nach weiteren Versuchen wähle ich die Nummer der Hotline ca. 20 Mal. Kein Durchkommen. Also wende ich mich an das Reisebüro, bei dem ich den Flug erworben habe.

Natürlich können Sie nichts machen. Immerhin der Strohalm-Hinweis, dass das Lufthansa-System überlastet ist. Ich solle ab 17 Uhr probieren. Ist ein Erfahrungswert. Um 21 Uhr – natürlich immer noch nicht eingecheckt – beschließen wir um 6.30 Uhr am Flughafen zu sein.

17. März

Punkt 6.30 Uhr reihen wir uns in Tegel am Lufthansa-Service-Schalter ein. 20 Minuten später sind wir dran und erfahren:
Das geht schnell. Doch: Irgendwas will da nicht. Ich muss kurz telefonieren. [30 Minuten später] Die konnten mir nicht helfen. Aber das ist oft so. Ich versuche es bei einer anderen Nummer. Bitte haben sie noch kurz Geduld. [20 Minuten später] Sie müssen selber beim Servicecenter anrufen.
Sie meinen die -799 oder -699.
Ja genau.
Ne, keine Chance, das probiere ich seit drei Tagen – ohne Erfolg. Bitte klären Sie das. Wenn alle Stricke reißen, buchen wir jetzt neu. Sie machen einen Vermerk und wir erörtern mit der Lufthansa im Nachgang das Problem.
Grrrrr. OK. [25 Minuten später – Manni und seine Kinder haben gerade eingecheckt und gesellen sich zu uns] Aufpreis 60 Euro pro Ticket.
Klar. Bitte sofort buchen.
8.45 Check-In. 9.15 Uhr Boarding. Alles gut.

Nach 11 Stunden Flug. Ich baue körperlich ab. Werde immer schwächer. Gedanken zu Corona spuken mir durch den Kopf. Oh Gott, sollte mich der Virus erfasst haben. Sollte ich Corona nach Mexiko bringen? Und meine Familie. Was passiert, wenn ich ich in Quarantäne muss?

Landung. Ich nehme meine Tochter an die Hand. Mit Kindern lässt sich jede Kontrolle passieren. Aber nicht die mexikanische Gesundheitskontrolle. Sirene. Wir werden angehalten von einer Dame in medizinischer Tracht mit Mundschutz. Meine Frau darf durch. Meine Tochter darf durch. Ich muss zum Gesundheitscheck. 36,4 °C. Todo bien! Mit weichen Knie heißt mich Cancún willkommen.

60 US-Doller fürs Taxi. Egal, ich bin durch, Hauptsache Bett. Eine kleine Hürde gibt’s noch: Unsere über Booking gebuchte Unterkunft ist voll. Wir hätten nicht bestätigt. Ich ziehe die Booking-Bestätigung hervor und kapiere schnell, dass diese in Mexiko nichts wert ist. Die Rezeptionistin ist zuvorkommend: Kein Problem. Für denselben Preis erhalten wir ein Upgrade ins rosa Hotel 20 Meter weiter. Upgrade? Rosa? 20 Meter? Egal, 45 Minuten später liege ich im Bett.

18. März

Die ersten Tacos al Pastor und die Welt strahlt wieder. Geld haben wir auch bekommen. Zudem wollen wir heute noch nach Holbox übersetzen. Und es sind 30 °C. Tigerwetter. Wir starten in einer Apotheke:
Desinfektionstücher? Desinfektionsmittel?
Gibt’s nicht. Klar, denken wir, blöde Idee. Doch Länder ohne strenge Vorschriften wie in Deutschland haben auch Vorteile. Desinfektionsmittel wird überall auf dem Verkaufstresen zusammengemischt. Egal, ob Schuhverkauf, Eisdiele oder Telefonladen.

Dann ist es soweit. 3,5 Stunden Busfahrt im fast leeren Bus nach Chiquilá. Dort direkt auf die Fähre und um 18 Uhr beziehen wir ein traumhaftes Apartment.

Abends die ersten Margaritas, Palomas und vor allem das erste Ceviche de Camarones. Mexiko hat definitiv die beste Küche der Welt – sogar hier auf der Insel. Ich fasse an diesem gestern noch für nicht möglich gehaltenen Abend den Entschluss: Ich werde jeden Tag in Ceviche baden! Ceviche, de Camarón, de Pulpo, de Caracól, de Pescado…

Ceviche Holbox 2020

19. März

Wunderbar geschlafen. Von 21 Uhr bis 5 Uhr. Direkt auf’s Dach, um den Sonnenaufgang über dem Mangrovenwald zu verfolgen. Dazu ein bisschen Dehnen, während Rudi, Elsbeth und Gabi Yoga zelebrieren. Trotz stehendem Gewässer und Mangroven-National-Park wenig bis keine Mücken. Heiß, aber Wind. Die Dehnübungen haben mich geschafft. Noch mal zwei Stunden Schlaf. Eine Whatsapp-Nachricht unserer Vermieterin Carmen holt mich zurück ins Leben:
Morgen schließt aufgrund des Covid der einzige große Supermarkt der Insel. Besser ihr besorgt euch essen und Trinken für die nächsten Tage.

Es ist trotz Paradies interessant, wie schnell der Virus über die Psyche Einfluss auf das physische Wohlbefinden nimmt. Halsschmerzen und Erschöpfung. Die Gedanken kreisen wieder um die Entscheidung für Mexiko. Was ist, wenn ich positiv bin? Wie schütze ich Mexiko? Die Familie?

Wir kaufen zwei Kilo Spaghetti, Tacos, Tomaten und Avocados. Und gehen Fischessen!

Kormorane Möwen Holbox 2020

20. März

Wir sind im Erholungs- und Abwartemodus. Das heißt morgens Yoga und den irrsinnig perfekten Karibikstrand mit seinen seichten Wassern und seinen Sandbänken durch- und ablaufen. Und natürlich plantschen. Meist solange, bis irgendwelche Kugelfische keinen Bock mehr auf uns haben und uns mit Stupsen und Stoßen aus dem Wasser drängeln.

Kugelfisch Holbox 2020

Sonnenuntergang über der See und wieder Cheviche. Nicht ganz. Dieses Mal wähle ich überbackene Nachos mit Schweinegeschnetzeltem. Kaum haben die anderen Fischfilets und Tacos de Pescado serviert bekommen, bereue ich meine Entscheidung. Doch Gabi fixiert den gewaltigen Essens-Berg auf meinem Teller und willigt sofort ein, zu tauschen. Puuuuh!

Heute hat noch alles geöffnet. Wir sind auf morgen gespannt. Irgendwie glauben wir noch nicht an einen Lockdown. Erste Maßnahmen sind allerdings schon im Gange: Seit heute gibt es einen Gesundheitscheck an der Fähre bei der Überfahrt nach Holbox.

21. März

Wir müssen unser geliebtes Apartment räumen. Carmen hat eine Alternative. Deluxe Apartments. Großer Pool, vergleichbare Größe. 50 Meter zum Strand. Am schönsten Strand der Insel, urteilt ein Gast aus Deutschland auf Booking. Versteht man nicht: Wir sagen zu mit dem Hinweis, dass wir sobald möglich wieder zurück wollen.

Der Pool ist super. Der Standabschnitt aber leider nicht vergleichbar mit dem 1,5 Kilometer westlich liegenden, wo wir zunächst waren. Die viel gepriesene Playa Los Cocos um die Ecke wollen wir morgen erkunden. Carmen macht uns bekannt mit dem Geschäftsführer: Señor Juan. Señor Juan wirkt geschäftstüchtig und kompetent. Er verleiht uns ein Gefühl von Sicherheit. Machen Sie sich keine Sorgen, auf Holbox sind Sie safe. Warten Sie ein paar Tage ab, dann können Sie auch wieder reisen. Aktuell blöd ist, dass Sie nicht wieder auf die Insel zurück können, wenn Sie sie einmal verlassen haben. Die Einreise ist seit heute Mittag für Touristen verboten.
Was?
Das bedeutet: Bleiben Sie hier und genießen Sie. Ich informiere Sie, sobald Sie Touren zu den Maya-Ruinen unternehmen und wieder zurückkommen können.
Da sind sie wieder meine Psycho-Halsschmerzen. Und Magen-Darm. Magen-Darm? Ja, Magen-Darm hat unsere ganze Reisegruppe. Natürlich sind wir Lateinamerika erfahren und kennen jede Form der Rache Moctezumas. Aber das Phantom Corona nagt und nagt und nagt.

Das Restaurant, das wir an diesem Abend aufsuchen, wird den letzten Abend geöffnet sein. So wie viele andere.

punta-coco-holbox-2020

22. März

Die Playa Los Cocos im Osten ist nett, aber kein Vergleich zu dem traumhaften Strand im Westen. Immerhin gibt es einen Outdoor-Tresen mit Mango am Spieß und diversen Sun Downern.

Nach dem allabendlichen Sonneruntergangsbaden wählen wir ein einfaches Restaurant am Strand. Super Wahl! Leider wird auch dieses Restaurant ab morgen Nachmittag schließen müssen. Ceviche und Fisch. Und zum ersten Mal im Leben bestelle ich ein Biermixgetränk: Ojo rojo. Hatte ich schon erwähnt, dass die mexikanische Küche von der besten und einfallsreichsten Getränkeauswahl flankiert wird.

23. März

Wir wechseln wieder in die Casa Chakum – unser Lieblingsapartment im Magrovensumpf. Mit abnehmender Zahl der Touristen kehren die Tiere zurück. Auf der windigen Terrasse gesellt sich ein Leguan zu uns. Nicht gewillt, die Couch freizugeben. Nach einer gechillten Stunde macht er sich über die Topf-Pflanzen her und verabschiedet sich. Jetzt nähert sich eine Waschbärmutter mit drei Jungen über die Veranda auf der Seite des Mangrovenwaldes.

Waschbärfamilie Holbox 2020

Waschbären sieht man an jeder Ecke. Sie sind von den Touris verwöhnt und laben sich an den Mülltonnen der Restaurants. Viele der Restaurants aber haben seit gestern geschlossen.

Was erwartet uns als nächstes? Die Rückkehr der Krokodile. Diese gibt es hier zu Hauf, sagt der Taxifahrer mit einem für uns nicht zu deutendem Grinsen. Aber weiter drin im Naturschutzgebiet. Doch es ist weder Krokodil noch caimán, was uns bald im Badezimmer in Angst und Schrecken versetzten wird.

24. März

Corazón – sie in Deutschland zurückgebliebene – schickt uns Fotos ihres komplett vermummten Einkaufs-Straßenoutfits. Im Anschluss an jeden noch so kleinen Einkauf würde sie eine Stunde desinfizieren. Das klingt aus der Ferne sehr absurd.

Wir beschließen, so lange es geht hier zu bleiben. Es zieht uns auch gar nicht weg. Vor allem nicht zurück ins vermummte Berlin. Auf Holbox haben wir statt Spring-Brake-Ferien-Partygäste (USA hat Frühlingsferien) den gesamten Strand für uns allein. Wir teilen nur noch mit Trompetenfischen, Manta-Babys und Urzeitkrebsen. Wer uns nicht so richtig ins Herz geschlossen hat, sind die Kugelfische. Sie stupsen uns unermüdlich in die Seite, selbst im seichten Wasser.

Natürlich träumen wir noch vom Besuch diverser Maya-Runinen. Highlight dieser Reise sollten die Ruinen von Calakmul werden, mitten im Dschungel, nur 120 Kilometer nördlich unseres geliebten Tikals gelegen. Die Hoffnung stirbt zuletzt!

25. März

Eine kleine allerdings sofort. Beim Versuch, Bier zu kaufen, wurde Manni barsch angegangen. Absolutes Alkoholverbot wegen Corona!

Wir kaufen Limones für den Vitamin C Haushalt, Tomaten und noch einmal zwei Kilo Spaghetti. So langsam trauen wir dem Frieden nicht mehr.

Im Dorf werden wir von Cristina angesprochen. Sie möchte eine Bootstour verkaufen. Sie legt uns nahe, nicht mehr länger zu warten, weil die Touranbieter jeden Tag damit rechnen, dass sie nicht mehr auslaufen dürfen. Wir fragen sie nach Hotels und Restaurants.
Viele haben schon zu. Ab morgen wird es eng. Die letzten Restaurants sind erfahrungsgemäß die Pizzerien.
Pizzerien?
Zurück an unserem Pool mixen wir genau noch eine Cuba Libre. Dann ist der Rum alle. Schade.

Urzeitkrebs Holbox 2020Ich muss noch arbeiten und lasse die anderen allein zum Abendspaziergangsbaden ziehen. Wir verabreden uns in der Pizzeria am Hauptplatz. Erstaunlicherweise gibt es sowohl eine leckere Pizza als auch Ceviche, Fisch und alles andere inkl. Bier. Wir fühlen uns gerettet. Am Nachbartisch sitzt eine Familie aus Deutschland mit zwei kleinen Kindern. Sie fragen:
Wollen wir übermorgen zusammen einen Bootsausflug machen?
Wir verabreden uns unverbindlich für den nächsten Tag, um zu sehen, was geht.

26. März

Der Geschäftsführer Señor Juan schaut vorbei.
Brauchen Sie etwas?
De verdad? Bierchen wäre nicht schlecht.
Ich gebe Señor Juan 40 Euro und nenne ihm unsere bevorzugte Marke: Tequate, la roja.
La azul ist auch lecker, ist aber die etwas schwächere Light-Variante.
Wir verbringen die heiße, sonnenbrennende Mittagszeit wie jeden Tag mit Hausaufgaben. Zwischendurch ein Sprung in den Pool.

Juan kommt nach einer Stunde wieder. Ich hatte vermutet, er als Einheimischer bekommt das Bier am nächsten Kiosk. Weit gefehlt. Nix ist’s mit Tequate. Er schleppt Amstel Ultra an und sagt, er bräuchte noch einmal 20 Euro. Respekt. 60 Euro für 40 0,355-Liter-Flaschen. Das kann ja lustig werden die nächsten Tage.

Als wir nachmittags eine Runde im Dorf drehen, haben viele Restaurants geschlossen. Es gibt aber einen Tequila / Mezcal-Laden, der noch geöffnet ist. Der Verkäufer bittet mich herein und fragt, ob ich etwas suche oder probieren möchte. Seine 100 %-Blaue-Agave-Auslage beginnt bei 45 Euro pro Flasche. Er schenkt mir trotz meines Erstaunens einen ein. Lecker. Aber 45 Euro? So weit sind wir noch lange nicht, denke ich ,und verabschiede mich mit den Worten: Wir bleiben in Kontakt.

Abends kehren wir wieder in der Pizzeria am Hauptplatz ein. Das Bier wird jetzt in unauffälligen Gläsern serviert. Die Polizei hat nun auch die Pizzeria im Blick. Komisch, dass das die letzten Tage nicht schon der Fall war. Die Polizeistation ist gerade einmal 40 Meter entfernt. Ich frage unseren favorisierten Kellner, ob wir unter der Hand eine Flasche Rum erwerben dürfen. Er verweist uns an die Tienda auf der Ecke mit dem Hinweis:
Frag die Alte!
Ich eile, doch die Alte entgegnet: Nein, sie verkaufe keinen Alkohol, das sei momentan gegen das Gesetz.

Nach dem Essen stößt der Papa von gestern alleine zu uns. Seine Frau ist bei den Kindern. Er eröffnet uns, dass sie morgen Früh abreisen, um am Rückholprogramm der Bundesregierung teilzunehmen. Wegen der Kinder hätte seine Frau keine Ruhe mehr. Der nächste Flieger ginge morgen. Der letzte übermorgen.

Gong! Da ist sie wieder die Corona-Psyche. Doch einen Trumpf hält der traurige Papa noch im Ärmel. Ich zeig euch, wo ihr Alkohol kaufen könnt. Wir erstehen tatsächlich drei Flaschen Rum. Mixen Cuba Libre. Prosten dem vogelreichen Mangroven und uns Mut zu.

Hotel Ida y Vuelta, Holbox 2020

27. März

Jetzt wir uns langsam klar: Es macht gerade bzw. ist bereits wirklich alles dicht. Die von booking gehypten Hotels wie das Ida y Vuelta oder Cielito lindo – dicht. Wegen des Virus schließen wir und bitten euch, dass ihr euch zu Haus erholt. Bis bald.

Hotel Cielito lindo Holbox 2020

Beim Cielito lindo waren wir gestern Abend noch um zu fragen, ob die Kinder den Pool nutzen dürfen, solange wir einen Drink zu uns nehmen.
Ja klar, lautete die Antwort. Für sechs Euro Poolgeld pro Kind.
Komisch, dachten wir noch. Wäre doch in den Krisenzeiten ein lukrativer Verdienst, wenn wir dort essen und trinken.

Morgen feiern wir Geburtstag. Am Strand gen Westen nehmen wir auf unserem morgendlichen Spaziergang oft einen Licuado, einen frischen Ananas-, Melonen- oder Bananensaft mit Wasser oder Milch verlängert. Dort gibt es eine Fischplatte mit Languste und diversen Meeresfrüchten auf der Karte. Wir fragen nach, ob das Restaurant morgen noch geöffnet hat.
Ja, aber wir haben nur noch ein paar wenige Dinge wie Fischfilet und Ceviche. Nach dem Licuado kommt der Kellner zu uns und sagt, wir sollten morgen früh oder heute Nachmittag noch mal kommen. Der Chef habe verlauten lassen, es wäre kein Problem, auch etwas anderes zu zaubern. Und natürlich dürften wir zum Geburtstag auch mit Wein anstoßen.

Sechs Stunden später. Hola!, der Kellner erkennt uns wieder. Der Chef kommt aus der Küche und gesellt sich zu uns. Kurze Besprechung. Der Geburtstag kann kommen.

Abends haben tatsächlich alle Restaurants in unserer Nähe geschlossen. Erlaubt ist nur noch Außer-Haus-Verkauf. Wir finden eine sehr ehrliche Garküche, bestellen Empanadas, Torta und Brühe. Todo con pollo steht quer auf der Speisetafel. Also bestellen wir alles mit Hühnchen. Zunächst hatten wir das Bestellsystem nicht verstanden, kommen dann aber doch an die Reihe. Liegt es daran, dass wir Europäer sind? Nein! Denn wir sind die letzten, die noch bestellen dürfen und warten im Anschluss eine gute Dreiviertelstunde. Die vier Köchinnen hätten gut und gerne in dieser Zeit noch 20 weitere Groß-Bestellungen annehmen können. Da erst fällt uns das Auto mit den Lautsprechern auf. Neben Musik ertönt immer wieder die Durchsage: „Halten Sie sich an die Ausgangssperre von 23 bis 7 Uhr!“ Und wieder etwas neues in Sachen Corona erfahren. Jetzt ist auch klar, warum niemand mehr bestellen durfte.

28. März

Für uns ist heute Feiertag. Wir blenden den Covid-19 aus. Auf dem Weg zum Kiosk entdecken wir eine Bäckerei mit ungeahnten Möglichkeiten. Eine italienische Bäckerei. Adios Pan de Bimbo-Toastbrot – ciao pane napoletana! Dazu frischer Parmaschinken, Fenchelsalami und Pecorino, Pasta in allen Formen, eingelegte Tomaten und Divella-Kekse. Zurückhaltung ist kaum möglich!

Gegen 14 Uhr machen wir uns auf den Weg zum Strand und dann zum Geburtstagsrestaurant. Der kulinarische Höhenflug setzt sich fort. Auf ein unverschämt leckeres Ceviche de Camarones y Pulpo folgt eine atemberaubende Platte mit erlesenen Meeresfrüchten und Fisch. Dazu trinken wir verbotenes Bier, serviert in Saft- bzw. Licuado-Gläsern, dekoriert mit Limonenscheibe und Maraschino-Kirsche.

Zum Finale serviert die Chefin Kuchen mit Kerze. Dazu ertönt aus den Lautsprechern die klassische Ranchera Las Mañanitas. Während der beseelten Verabschiedung fragt die Chefin, wie lange wir noch hier seien?
Unbestimmt, antworten wir, so lange es eben geht.
Super, sagt sie. Wir schließen heute das Restaurant, aber ihr trefft uns trotzdem immer an. Einen Licuado bekommt ihr weiterhin direkt. Und wir würden uns freuen, wenn ihr auch zum Essen vorbeischaut. Bitte sagt einfach vorab Bescheid, was ihr wollt.

Juhuuuu! Den Strand für uns. Ein Apartment mit Privatpool. Kiosks und Bella Italia um die Ecke und jetzt auch noch Langusten, Pulpo… Wir beschließen, keine Fotos in die Heimat zu schicken. Uns gefällt der Gedanke, die Quarantäne auf Holbox unbestimmt zu verlängern, immer besser.

Holbox 2020 leerer Strand

29. März

Interessanterweise sind auf einen Schlag neue Gäste eingetroffen. Dabei handelt es sich um Menschen aus den Städten mit Privathäusern bzw. Apartments. Das Bild am Strand ändert sich: Joggen, flanieren, Bekannte treffen. Für uns durchaus beruhigend. Wir sind uns immer sicherer, dass wir mit unserem Tripp nach Mexiko alles richtig gemacht haben.

Nachmittags sichten wir im Apartment die erste Kakerlake. Dann eine zweite und eine dritte. „Das liegt bestimmt daran, dass seit einer Woche zum Schutz der Angestellten nicht mehr geputzt wird“, spreche ich meine Gedanken laut aus. Stimmt aber wohl nur so halb, verkündet ein Schrei aus dem Bad: „Skorpiooooon!“

Wir hatten auf vergangenen Reisen Bekanntschaft mit diversen Skorpionen gemacht. Aber dieses Exemplar war ein anderes Kaliber. Rudi wollte nach dem Duschen eines der frischen Handtücher greifen. Da sah sie etwas Schwarzes, was da nicht hingehörte. Erst vermutete sie eine große Cucaracha, doch dann zeigte sich der Skorpion in seiner ganzen Pracht.

Als ich ins Bad stürme, sitzt er mitten auf dem oberen Handtuch. Dann eilt schon Manni hinterher mit der Bratpfanne bewaffnet. Er reicht sie mir und ich haue mit aller Kraft zu. Das Virus, das die Welt in Atem hält, ist in diesem Moment komplett aus unserem Bewusstsein gewichen und das Blut in unseren Adern erstarrt, denn der Skorpion bringt sich und seinen Stachel in Stellung. Den schmalen Eingang ins Bad hat er mit dieser Position blockiert. Und der Schlag? Ich schätze, das rechte mittlere Bein schmerzt ihn. Zumindest schüttelt er es ein paar Mal aus.

Ratlosigkeit macht sich breit. Und Panik. Kinder raus!
Rudi googlet und macht uns Mut:
Der Skorpion ist erst erledigt, wenn er gevierteilt, platt und zweimal mit dem Messer ins Herz getroffen ist.“ Manni holt einen 10 Kilo-Holzpflock, der am Pool als Ablage dient und übergibt ihn mir durch die schmale Tür. Schweiß tropft auf beiden Seiten. Doch da macht der Skorpion einen entscheidenden Fehler. Er verlässt seine komfortable, todbringende Stellung und zieht sich zwischen Handtuch und Wand zurück. Das ist unser Moment. Ich ramme den Pflock aufs Handtuch. Leider ist das Ding so schwer, dass mir die Arme versagen und ich den Skorpion verfehle.

Kürzen wir hier ab. Nach einer halben Stunde und verzweifelten Versuche, unseren Vermieter zu erreichen, siegen wir. Der Skorpion liegt regungslos auf dem Handtuch, und auch das Küchenmesser hat er zwei Mal zu spüren bekommen.

Es folgen Cuba Libre und das vorsichtige Durchsuchen unserer Klamotten. Aber: Die Kinder haben Hunger. Zum Glück macht der italienische Bäcker abends Pizza. Unser Glück.

Pelikan und Fregattvogel, Holbox 2020

30. März

Yoga auf dem Dach: Fregattvogel-Gruß, Pelikan-Gruß, Sonnen-Gruß. Ich beschließe an diesem Morgen nicht mit zum Strand zu gehen, sondern ein paar Dinge zu regeln wie die Verlängerung unseres Mietvertrages.

Antonio kommt vorbei, der Hausmeister. Er will zunächst den Pool reinigen und fragt, ob er unser Apartment fumigieren – gegen Cucarachas und ähnliches vorgehen soll? Wir müssten dazu mindestens sechs Stunden außer Haus sein. Wir einigen uns darauf, dass Putzen erst einmal ausreicht. Allerdings sollen wir die Fenster zum Mangrovenwald geschlossen halten. Aha! So war bestimmt der Skorpion eingedrungen.

Antonio ist in der Holbox-Facebook-Gruppe. Je länger wir quatschen, desto detaillierter und gefühlt auch eindringlicher wird er. Alle Hotels und Restaurants haben geschlossen. Die Golfcars-Taxen dürfen nicht mehr fahren. Alkohol gibt es sowieso nicht mehr.
Soweit nichts Neues, denke ich.
Dann aber erzählt er, dass ab dem 1.4. die Strände schließen und keine europäischen Touristen mehr auf der Insel geduldet sind.
Was?, hake ich nach.
Er deutet an, dass die Stimmung auf Facebook gegenüber Touristen aus Europa nicht mehr die beste ist. Auch hier auf der Ferien-Insel nicht. Problem aber sei, dass keine Busse mehr fahren würden zwischen Holbox und Cancún.
Aber Taxen?, frage ich.
Nein auch nicht mehr.
Wie ist es mit den Cessnas – den kleinen Flugzeugen?
No, der Flugverkehr ist eingestellt. 
Ok, aber wie kommen wir von der Insel runter und nach Cancún?
Ich versuche nicht verzweifelt zu klingen. Aber die Corona-Psyche alarmiert augenblicklich den Hals – Schmerz, Durchfall, Panik.
Mit einem offiziellen Van ginge es noch, antwortet Antonio. Weitere Infos dazu hätte Juan.

Wow, das hat gesessen. Ich muss mich erst einmal sammeln. Dann funke ich meine Schwester in Puebla an. Auch bei Babsi ist die Stimmung über Nacht gekippt:
Bitte kommt schnell zu uns! Die Situation ist unberechenbar. Die Kriminalität kann super schnell ansteigen. Meine Kolleg*innen von der Deutschen Schule rechnen damit, dass der Landweg zwischen Mexiko und Puebla bald dicht ist. Einige mutmaßen, dass sie von der deutschen Luftwaffe oder ähnlichem ausgeflogen werden müssen.
Was?
Setzt euch umgehend auf die Liste des Rückholprogramms des Auswärtigen Amts. Morgen geht die letzte Maschine. Dann ist das Programm offiziell abgeschlossen. Allerdings wurde gerade ein Freund informiert, dass für ihn kein Platz mehr auf der Maschine ist.
Die Hiobsbotschaften wollen noch nicht so richtig sacken. Uns geht es hier ja auch super. Wir beschließen in 1,5 Stunden wieder zu telefonieren. Ich will erst einmal nach Flügen schauen und mit unserem Verwalter reden.

Señor Juan meldet sich:
Señor Dik! Dieser Skorpion ist nicht schlimm. Aber wir putzen heute Ihr Apartment.
Danke, aber meine Problemebene hat sich wieder in Richtung Virus verschoben.
Señor Juan, ich hab heute morgen gehört, dass alle Europäer der Insel verwiesen werden sollen.
Nein Señor Dik. So stimmt das nicht ganz. Dabei geht es um die Gäste der heruntergekommenen Posadas, die offiziell schon seit einer Woche geschlossen sein müssen. In diesen Posadas wohnen Touristen, die Drogen nehmen und nachts Party machen.
Komisch, wo finden denn hier Partys statt? Es ist doch fast schon gespenstisch ruhig?, denke ich.
Señor Juan, glauben Sie, dass wir bleiben dürfen? Macht es Sinn, den Aufenthalt zu verlängern.
Natürlich können Sie bleiben Señor Dik. Ich spreche heute mit dem Chef der Insel, wie er die Lage einschätzt. Allerdings müssten Sie bitte morgen das Apartment verlassen und vorübergehend in unser Hotel umziehen. Nach ein paar Tagen wird sich die Situation wieder beruhigt haben, dann können Sie zurück.
Nachtigall ich hör dir trapsen.

Señor Juan, ich hätte noch eine Frage: Sie sagten, Sie würden uns jederzeit einen Transfer nach Cancún organisieren. Wie schnell könnte das sein?
Eine halbe Stunde.
Wir hörten heute Morgen, dass die Straße gesperrt sei?
Es fahren keine Busse mehr, aber Taxis verkehren nach wie vor.

Die anderen kommen vom Strand zurück. Ich erläutere ihnen die Situation. 20 Minuten später ist der Entschluss gefasst, wir brechen heute auf. Sehr sehr schweren Herzens. Es ist die Ungewissheit, ob wir wirklich auf der Insel bleiben dürfen, die den Ausschlag gibt. Was wäre, wenn wir nach ein paar Tagen runter müssten und dann nicht mehr nach Puebla kämen? Irgendwie würde es wohl schon klappen, aber mit Kindern? Und was, wenn Holbox seinen ersten Coronafall hätte. Wären dann die Europäer schuld? Wir wollen es nicht darauf ankommen lassen. Dass sich die Situation nach ein paar Tagen wieder entspannt, davon ist nun wirklich nicht auszugehen.

Antonio leiht mir sein Fahrrad und 15 Minuten später erläutere ich Señor Juan unsere Entscheidung, direkt aufzubrechen. Er ist erstaunt, sagt aber auch, dass die Situation jetzt doch ungewisser sei, als er gedacht habe. Die Inselverwaltung habe ihm gesagt, dass seine Touristen erst einmal bleiben dürften – allerdings im Hotel und nicht im Dorf oder am Strand. Zudem könnte es passieren, dass noch beschlossen würde, dass alle Europäer von der Insel runter müssten.
Und dann?, frage ich.
Schulterzucken. Dann würde man schon eine Lösung finden.

Unser Entschluss aufzubrechen, erscheint mir immer sinnvoller. Wenn wir auch nicht die letzten Europäer auf der Insel sein werden. Zwei Familien mit Kindern und vier weitere Touristen aus Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz sind noch da.

Señor Juan klemmt sich hinters Telefon. Zunächst will er das Hotel klar machen. Buchen geht nicht, aber mir reicht die Bestätigung, dass es geöffnet ist und Platz für Europäer hat. Aeromexico fliegt auch noch. Bleibt der Transfer. Anders als Señor Juan angekündigt hat, dürfen doch keine Taxen mehr die Strecke nach Cancún befahren. Wir müssen, wie Antonio gesagt hat, einen Van buchen.

14.30 Uhr

Wir werden abgeholt und zur Fähre gefahren. Diese legt um 15 Uhr ab. Auf dem Festland in Chiquilá wartet bereits unser Van. Der Fahrer sieht aus als wäre er früher einmal Preisboxer oder Luchador (Wrestler) gewesen. Auf die Frage wie lange die Fahrt dauern wird, sagt er:
Normalerweise zwei Stunden, aber…
Zwei Stunden hatte auch Señor Juan gesagt. Señor Juan hatte auch berichtet, dass die Strecke frei sei und es keine Komplikationen gäbe. Leichte Unruhe macht sich breit.
…aber wir werden einige Kontrollen weiträumig umfahren und auch das Auto wechseln müssen. Er geht von Minimum drei Stunden aus.

Die erste Polizeikontrolle passieren wir nach einem kurzen, aber freundlichen Austausch. Dann aber steigt unsere Anspannung. Wir sind noch keine 20 Minuten unterwegs und Miguel flucht. Eine Straßensperre der Bürgerwehr. Er parkt 30 Meter vor der errichteten Barrikade und bittet uns eindringlich, den Wagen auf keinen Fall zu verlassen, egal was passiert.
Bestimmt nicht!

Seht ihr unseren Fahrer noch?
Ja, er sitzt dort auf dem Plastikstuhl und verhandelt. Verhandeln bedeutet, er strahlt viel Ruhe und Gelassenheit aus. Gleichzeitig scheint er sich der Wirkung seiner Boxernase und seines Stiernackens bewusst. Dann geht er zu weiteren aufgeregten Akteuren der Kontrollstelle.

Es sieht so aus, als hätten die 20 Männer aller Altersgruppen noch keine Routine entwickelt. Ungestüm und planlos wirken Kontrolle und Durchwinken diverser Kleinlaster und Pick ups. Um sie herum haben sich Zuschauer positioniert. Mit und ohne T-Shirts, Hauptsache bauchfrei. Auf Fahr- oder Motorräder gestützt kommentieren sie träge das Geschehen oder warten einfach nur ab. Das sieht so lässig aus, als ob sie auch problemlos auf ihren Fahrzeugen schlafen könnten. Wir hoffen, dass sie nicht auf Touristen aus Europa warten. Ja, das hoffen wir inständig.

Papi, ich muss auf Toilette!
Wie aus dem vereinten Mund des Entsetzens ertönt alle drei anwesenden Erwachsenen gleichzeitig: Jetzt nicht!
Kekse?
OK.
Kekse zur Beruhigung der Kinderblasen. Es wirkt. Puuuh.

Unserer Fahrer schüttelt eine Hand und springt ins Auto. Er startet und fährt los. Doch die Absperrung wird unmittelbar vor unserem Auto wieder aktiviert. Er schreit aus dem Fenster:
Alles in Ordnung, alle Papiere sind in Ordnung, ihr kennt mich. Ich fahre jeden Tag mehrmals hier entlang. Ich bin ein Freund eures Chefs…
Dabei fährt er Zentimeter um Zentimeter weiter. Bedrohlich und besänftigend zugleich gestikuliert er dabei aus dem Fenster heraus. Die junge Wilden wissen nicht wie reagieren und scheinbar siegt die Angst. Die Absperrung sinkt kurz zu Boden. Der Chef, mit dem sich unserer Fahrer zuvor sitzend unterhalten hatte, kommt angerannt, doch da gibt der Fahrer Gas. Er brüllt noch Dankesworte und drückt drauf.

Stille im Auto. Noch sind wir 150 Kilometer von Cancún entfernt. Vor unseren geistigen Augen laufen bereits die Bilder des Fahrzeugwechsels ab. Wir werden wohl zu Fuß einen Polizei- oder Bürgerwehrkontrollposten passieren müssen. Zu Fuß mit Gepäck und Kindern. Auweia.
Ich durchbreche die Stille.
Chofe, was war da los?
Geradezu in Rage bricht es aus ihm heraus:
Vollidioten. Eine Bande von Hornochsen. Leute, die alles kaputt machen. Wegen diesen Leuten bleiben die Touristen aus…
Das Wort Cabrones fällt auf den nächsten Kilometern immer wieder.

Mit 150 Stundenkilometern fliegen wir weiter auf der einspurigen Straße. Sie verläuft gerade, aber die Höhenunterschiede des Geländes sind nicht ausgeglichen. Wir heben daher immer wieder ab. Halleluja.
Wir passieren mehrere Polizeiposten. Nur einmal müssen wir anhalten und uns erklären.
Ich fahre nur bis ins Zentrum und komme dann zurück.
Die Polizistin ist nicht überzeugt und überlegt. Da kommt ein Kollege von der Toilette und grüßt unseren Fahrer. Ich verstehe nur: Sofort festnehmen. Dann lachen beide, winken und die Fahrt geht weiter.
Das sind die Späße, die wir jetzt brauchen. Denn eines der Kinder muss immer noch auf Toilette.

An einer großen Kreuzung mit Tankstelle, aber ohne Kontrollposten, halten wir. Unser Fahrer steigt aus und unterhält sich mit einer Gruppe „normaler“ Taxifahrer.
Hier steigen wir ganz unspektakulär um. Eine Toilette gibt es auch. Die weitere Fahrt bleibt entspannt. Unser neuer Fahrer scheint seit Jahren nichts mehr Aufregendes erlebt zu haben. Ich schau aus dem Fenster und sehe Affen. Dann sind wir am Hotel.

Eine Bruchbude an einer Autobahn in der Nähe des Flughafens. Das Hotelrestaurant ist geschlossen. Natürlich. Es gibt aber Quesadillas und einen Kiosk um die Ecke. Rudi hat zudem Brote vorbereitet. Manni hat den restlichen Rum im Gepäck. Auf den Schock trinken wir uns vom Dach aus das Hotel und die vergangene Fahrt schön.

Die Kinder wollen ins Bett. Macht auch Sinn, denn unser Flieger geht um 6 Uhr morgens. Um 3.30 Uhr klingelt der Wecker.

Die Kleinen schlafen schnell ein. Ich gehe noch mal aufs Dach. Es gesellen sich zwei Deutsche zu uns. Sie haben kurzfristig einen neuen Rückflug für morgen Abend mit Air Canada über Toronto gebucht.
Das geht noch?
Die Frage bleibt unbeantwortet.

31. März

Wir haben gestern schon beschlossen, dass wir versuchen werden auf den vorerst letzten Flieger des Rückholprogramms zu kommen – auch wenn wir von Babsi wissen, dass der Flieger voll sein soll. Zumindest wollen wir uns vor Ort informieren und dann entscheiden, ob wir in Mexiko Stadt bleiben oder weiter nach Puebla reisen.

Nach zwei Stunden Flug ab Cancun landen wir um 7 Uhr in Mexiko Stadt. Es gibt eine Stunde Zeitverschiebung zu Cancún. In unserem Flieger sind zwei Jungs aus Mannheim. Sie hatten versucht mit dem letzten Flieger aus Cancún auszureisen. Dort sind sie mit knapp 20 weiteren Personen zurückgeblieben. Aber sie haben den Hinweis erhalten, dass die heutige Lufthansa-Maschine aus D.F. bei weitem nicht voll sei und sie auf jeden Fall auf diesen Fliegen kämen.

Um 8 Uhr reihen wir uns in die Schlange am Lufthansaschalter ein. Drei junge Alleinreisende stehen vor uns. Sie haben eine Liste erstellt, so dass die Reihenfolge eingehalten werden kann. Wer zuerst kommt, malt zuerst. Wir stehen vor dem LH Serviceschalter. Allerdings ziert diesen ein großes Schild, dass er aufgrund des Covis-19 außer Betrieb ist.

Wir kommen mit den dreien ins Gespräch. Alle drei versuchen seit geraumer Zeit umzubuchen – ohne Erfolg. Pablo etwa steht schon zum zweiten Mal hier. Sein Rückflug nach Deutschland für den 18. März war drei Tage vor Abflug von der Lufthansa gecancelt worden. Bis heute hatte er keine Information zu einem Alternativflug. Aber ist die Lufthansa zu diesem Zeitpunkt nicht noch regulär geflogen? Krass!

Zudem sollen die anderen Rückholaktions-Flüge viel zu leer gewesen sein, weil viele der Gäste mit Sitzplatzgarantie nicht erschienen waren. Die Geschichten der beiden anderen Reisenden klingen ähnlich wie die Pablos  – ihr Rückflug hätte am 23. März stattfinden sollen. Alle drei klingen schon um 8 Uhr morgens leicht verzweifelt. Sie nehmen auch kein Blatt vor den Mund, dass sie vor Reisenden mit Kindern Angst haben, da diese bestimmt bevorzugt werden würden.

Der Flieger soll heute Abend um 20 Uhr starten. Check In sei von 13 bis 17 Uhr. Um 10 Uhr haben sich bestimmt schon 100 Menschen eingereiht und auf der Liste eingetragen. Dann wird es unübersichtlich. Die Schlange wird länger und länger. Irgendwann dreht sie Kurve um Kurve und nimmt den kompletten hinteren Teil des Flughafens ein.

Um 12 Uhr tut sich etwas hinter der Absperrung. Das Team der Botschaft läuft auf und plant und räumt. Erste verzweifelte Versuche der Kontaktaufnahme werden abgeblockt. Eine Frau dringt in den Innenbereich vor. Ein spannender Moment, denn die Situation ist angespannt und könnte eskalieren. Wage geschätzt stehen jetzt 1.000 Menschen in der Schlange. Dicht an dicht. Über Stunden. Falls hier auch nur ein Coronafall zugegen ist, gute Nacht Mexiko.

Meine Schwester erkundigt sich alle paar Minuten nach der Lage. Ein Apartment, das wir heute noch auf unbestimmte Zeit beziehen könnten, hat sie bereits organisiert. Im Flughafengebäude gibt es einen ADO-Schalter, Mexikos Busgesellschaft Nummer eins.
Klar fahren die Busse nach Puebla noch. Heute bis 22 Uhr.
Und morgen?
Auch.
Nur um sicher zu gehen: Wie steht’s mit übermorgen!
Das können wir heute absolut noch nicht sagen.
Aha!

Um 12.45 Uhr die erste Ansage: Es gibt 328 Plätze. Diese sind alle vergeben. Aber eventuell kommen nicht alle Reisenden… Wir schauen, was wir tun können.

Es geht los. In Anbetracht der Lage bleibt es erstaunlich gesittet. Zwar wird die Reihenfolge-Liste nicht akzeptiert, aber es gibt kaum Leute, die sich vordrängeln. Wir sind an der Reihe. Ja, sie stehen auf der Liste. Nein, sie sind nicht für diesen Flieger vorgesehen, bitte hier anstellen. 20 Minuten später sind wir als Wartende registriert. Wir fragen nach weiteren Fliegern in den nächsten Tagen.
Nein, die werde es nicht geben. Diese sei der letzte Maschine erfahren wir von der Botschaftsangestellten. Wir sollten auf Air Canada ausweichen.

Meine Schwester Babsi – unser Support aus Puebla – hat sich im Netzt erkundigt:
Auf keinen Fall Air Canada! Alle Reisenden müssen für zwei Wochen in Quarantäne. Das gleiche gilt für Frankreich und USA.

Corazón schreibt, dass heute Abend noch British Airways fliege. Ich schaue nach und finde noch Flüge mit Edelweiss und Swiss… ab Cancún. – Verdammt. Verwirrend.

15.00 Uhr

Eine Durchsage an alle Wartenden. Um 17 Uhr sind das Check In und die Registrierung aller weiteren Personen abgeschlossen. Dann wird verkündet werden, wer von Ihnen noch mitfliegen kann. Die Reihenfolge wird sich an den Risikogruppen orientieren: zunächst die älteren Herrschaften, dann Familien mit Babys und Kleinkindern, anschließend alle anderen. Zwei unserer Kinder wurden in der Auswahl-Liste als Kleinkinder vermerkt. Hoffnung.

Diese sinkt jedoch stetig beim Anblick immer neuer älterer Menschen. Einige davon im Rollstuhl… und den Familien mit Babys. Eine ganze Reihe der Wartenden resigniert bereits.

17.15 Uhr

Die Check In Schlange ist immer noch unendlich lang. Die Wartenden werden auf 19 Uhr vertröstet. Dann noch mal auf 19.30 Uhr.

19.45 Uhr

Die Verkündung. Dran geglaubt hatte keiner mehr, aber wir sind unter den 38 Personen, die noch mitfliegen werden. Schnell bahnen wir uns den Weg durch die wartenden Massen. Sehr viele ernst gemeinte Glückwünsche erreichen uns. Dann Fieber messen, einchecken. Erneut Fieber messen vor der Durchleuchtung des Handgepäcks und wir sind drin. Als wir am Schalter ankommen, beginnt gerade das Boarding. Eine letzte SMS an Babsi und Corazón. Ein letzter Blick auf das Ticket. Abflug.