Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián (02/2015)

Das Werk von Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián lernte ich näher kennen, als ich im Jahr 2004 für den Sender WDR3 eine sechsteilige Serie über elektroakustische/Neue Musik in Lateinamerika produzierte, die derart gestaltet war, dass – soweit bei diesem Sujet möglich – auch „Laien“ sie verstehen konnten. Das ist bei diesem spanischsprachigen Buch (Sonidos y hombres libres – Música nueva de América Latina en los siglos XX y XXI) nicht das Ziel, der Band zu Ehren der beiden in Uruguay lebenden Komponisten zu ihrem 73. Geburtstag (2013) richtet sich an den kleinen Kreis von Experten und Liebhabern der Neuen Musik.

Sonidos y hombres libres
Música nueva de América Latina en los siglos XX y XXI

Hanns-Werner Heister/ Ulrike Mühlschlegel (Eds.)
Vervuert, Frankfurt a.M./ Madrid, 2014

Paraskevaídis und Aharonián spielen bei der Entwicklung der Neuen Musik in Lateinamerika eine wichtige Rolle, bei deren Verbreitung auf dem Kontinent sowie bei der Verbindung von Musik mit Gesellschaft und Politik. Sie sind Vertreter einer lateinamerikanischen Identität, die vorkolonialer Zeit entspringt, aber schlagen gleichzeitig Brücken zwischen den Kontinenten und den Generationen von Komponisten (Solomonoff, S. 17). Schon zu Vor-Internet-Zeiten als die Komponisten Lateinamerikas gar nicht bzw. schlecht vernetzt waren und sich gegenseitig bzw. ihre Werke auf Festivals in Europa/USA kennen lernen oder wissenschaftliche Institutionen wie die Fonothek des IAI in Berlin dazu nutzen mussten, bemühten sich Paraskevaídis und Aharonián seit 1971 mit ihren „Cursos Latinoamericanos de Música Contemporánea“ (CLAMC) um einen Austausch. Diese Ereignisse werden in der Einleitung und einigen Texten erwähnt, aber das Buch enthält – leider – keine (Kurz)Biographien der beiden Komponisten. Stattdessen befassen sich Freunde und Wegbegleiter der beiden mit deren Werk bzw. anderen Fragen und Phänomenen der Neuen Musik: Natalia Solomonoff analysiert Vokalstücke von Paraskevaídis, der Kolumbianer Daniel Áñez ihre Pianokompositionen, die er anlässlich ihres 70. Geburtstags gemeinsam mit ihr aufführte. Osvaldo Budón beschäftigt sich mit ihrer Komposition „Magma“ und zeigt deren Verbindung zu Varèse, Wolfgang Rüdiger analysiert „Sendas“ und Omar Corrado schließlich ihre Werke zu Texten des Italieners Cesare Pavese.

Der Brasilianer Chico Mello betont in seinem Artikel den wichtigsten Aspekt im Schaffen von Coriún Aharonián: die Konstruktion einer lateinamerikanischen Identität für die Komponisten des Kontinents, die „ernste“ bzw. Neue Musik komponieren, die ja zunächst aus Europa, dann auch aus den USA, importiert wurde. Darin sehe Aharonián einen Akt des Widerstandes. Dessen These: Die Neue Musik Lateinamerikas soll die Vielfältigkeit des Kontinents widerspiegeln, sie soll „Mestizo“ sein. Coriún Aharonián selbst zeigt das in seinen Kompositionen, in denen oft eine Gleichheit herrscht, zwischen den Elementen der europäischen Kunstmusik und der uruguayischen Folklore.

Weitere Texte handeln vom Komponisten Jorge Edgard Molina aus Santa Fé, der in den 90er Jahren mit Paraskevaídis und Aharonián Bekanntschaft machte, von Klangwelten an der Grenze von Guayana und Surinam, vom Raum-Zeit-Konzept in der asiatischen Musik, von tonaler Terminologie. Der Chilene Juan Pablo González behandelt in einem aufschlussreichen Artikel die Musikerziehung und –ausbildung in Lateinamerika und die Möglichkeiten, sich dabei vom europäischen Vorbild/Modell zu lösen, was er für zwingend hält, um die eigenen Wurzeln freizulegen. Auch sollten deshalb die Popularmusik und ihre Erforschung akademisch weiter aufgewertet werden. Wolfgang Martin Stroh steuert einen interessanten Artikel (auf Spanisch) über das Konzept „world music“ bei, der im zweiten Abschnitt von lateinamerikanischer Musik in Deutschland handelt, wobei dieser mit Einschränkungen meiner Meinung nach leider zu oberflächlich gerät und seine Unterteilung der lateinamerikanischen Musik in Deutschland in fünf Typen Lücken aufweist.

Der dritte Teil des Buches enthält Glückwünsche von Freunden und Texte über persönliche Begegnungen mit Graciela Paraskevaídis und Coriún Aharonián. Ein für den Nichteingeweihten streckenweise interessantes Buch, dessen Titel ein wenig irreführend ist, da zur Geschichte der Neuen Musik in Lateinamerika im 20. und 21. Jahrhundert einfach zu wenig gesagt wird. Trotzdem lesenswert!

Cover: amazon