Ein unendliches Meer leuchtender Punkte und keine Ende in Sicht

„Noch jede Annäherung changiert zwischen Faszination und Schaudern, zwischen dem ehrfürchtigen Staunen ob der oft surreal anmutenden Lebendigkeit und dem Schrecken über das Labyrinthische, Überbordende und Monströse, das die Stadt zusammenhalten scheint.“ (Huffschmied 2008: 247)

Noch sitze ich im Flugzeug, meine Augen sind schwer, der Atem trocken, die Glieder träge. Ein langer Weg liegt hinter mir, Frankfurt, Toronto und nun Mexiko-Stadt, die Hauptstadt Mexikos.

Mein Blick wandert zur rechten Seite, versucht durch die kleinen Fenster der Maschine Blicke nach draußen zu erhaschen. Millionen von Lichtern, ein unendliches Meer gelb leuchtender Punkte und kein Ende in Sicht. Mein Gemüt erwacht, der Blick nach draußen entfesselt, fasziniert mich. Ich kann es noch gar nicht glauben, über dieser Stadt, die einige als hoffnungslosen, aus allen Nähten platzenden, Moloch abstempeln, über der Stadt, über die ich schon so viel gehört und gelesen habe, zu schweben. Wie viele Einwohner leben in ihr? 20 Millionen, 25 Millionen oder gar 30 Millionen? Keiner weiß das so genau. Ist dass denn auch wichtig? Das Telefonbuch allein zählt 5140 Seiten. Ich wünsche jedem viel Spaß bei der Suche eines geläufigen Namens! In einigen Minuten werde ich einer unter ihnen sein, einer von Millionen Menschen, ein ganz kleiner Punkt, ein minimaler Teil eines erdrückenden Ganzen, zumindest einige Tage lang.

Mexiko-City, der Traum vieler Menschen. Hier gibt es Mexikaner aus allen Teilen des Landes und Lateinamerikas, US-Amerikaner, Europäer, Chinesen, Japaner, Libanesen usw. Sie alle sind hier aus den unterschiedlichsten Gründen. Für die einen ist es die wirtschaftliche Misere, für andere ist es der Lebenspartner, die internationale Firma oder die Idee, Mexiko von hier aus zu erkunden. Nur der Sog der Stadt auf die ländlichen Massen ist längst geschwunden. Die USA hat ihr den Rang abgelaufen, an der 2.600 km langen Grenze stehen sie schlangenweise. Täglich spielen sich hier Tragödien ab. Schmugglerbanden, deren Mitglieder selber oft aus den ärmsten Verhältnissen kommen, verdienen gutes Geld damit, andere Menschen in die vermeintlichen Wohlstandsregionen zu schleusen. Nur allzu gut kennen wir diese Bilder aus Europa, wo sich ähnliche Schicksale in Spanien und Italien abspielen. Die mediale Kommentierung dieser Bilder vermengt nur allzu oft Elemente der Realität mit bedrohlichen Szenarien, so dass diese Migrantenströme mehr und mehr als Bedrohung wahrgenommen werden.

Mexiko-Stadt, die Stadt, die aus allen Nähten platzt und der eurozentrische Meinungen ein hoffnungsloses Wachstum vorhersagen. Doch nur die wenigsten wissen: Es wandern mehr Leute ab, als in die Stadt kommen.

Das Heer von Zuwanderern wird zunehmend kleiner, neben den USA sind für diese Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben sind, heute eher vormals sekundäre Städte wie Monterrey, Guadalajara, Puebla, León, Tijuana usw. von Bedeutung. Nur noch die hohe Geburtenrate lässt Mexiko-Stadt weiterhin wachsen.

In der Nähe vom Zócalo komme ich unter. Der „Sockel“, was Zócalo in deutscher Sprache bedeutet, ist der Hauptplatz in Mexikos größter Stadt. Umrahmt wird dieser Platz von einer monumentalen Kathedrale im Barockstil und dem Nationalpalast. Nördlich vom Platz trifft man auf Reste des Tempelbezirkes der legendären Stadt Tenochtitlán, die am Vorabend der spanischen Revolution 1521 bereits 300.000 Menschen ein Zuhause gegeben haben soll. Damals eine Stadt, die auf felsigem Eiland erbaut und umgeben von künstlichen Inseln im Texcoco-See lag.

Doch Hernán Cortés machte auf seinem Eroberungsfeldzug alles nieder. Nach und nach kam es unter dem Siedlungsdruck zur Trockenlegung des Sees, doch erst 1960 wichen seine letzten Teile der informellen Siedlung Netzahualcóyotl.

Unvorstellbare Menschenmassen ziehen sich am Zócalo entlang, eine träge Masse, die sich Meter um Meter vorwärts schiebt: Tausende Touristen, an Flip Flops und kurzen Hosen des Öfteren eindeutig identifizierbar, neben „Indigenas“, die mit viel Federschmuck vermeintlich traditionelle Tanze vorführen, Straßenhändler, die darauf hoffen, ihre Waren an den Mann zu bringen und daneben Bettler, die um Almosen bitten.

Gleich hinter dem Zócalo befindet sich das Hotel, in dem ich die nächsten drei Nächte verbringen werde. Auf dessen Dachterrasse finden sich allabendlich die eingefleischten Backpacker-Touristen ein, hauptsächlich bestehend aus Europäern und US-Amerikanern. Bis auf das Personal begegnen mir hier nur zwei Mexikaner, und genau diese sind, wie der Zufall will, meine Zimmerkollegen.

Nach einer feuchtfröhlichen Nacht, in der nach einigen mexikanischen Bieren das Spanisch nur so aus mir heraussprudelt, gehe ich auf Erkundungstour durch Mexiko-City. Eine vom Hotel organisierte Führung gibt mir innerhalb von zweieinhalb Stunden erste Einblicke in diese Metropole. Danach geht es auf persönliche Erkundungstour. Ich entferne mich aus der historischen Altstadt, nehme die Metro und im Anschluss den Bus, um in einer völlig anderen Welt zu landen, in der Welt der Reichen. Auf einem riesigen Parkplatz, links und rechts schicke Karossen amerikanischer Hersteller und um mich herum die neuesten Wolkenkratzerbauten, gehe ich auf die größte Shopping Mall Mexikos zu. Ich befinde mich in Santa Fe, wo vor einigen Jahren das modernste Einkaufszentrum Mexikos erbaut wurde, ganz nach dem Vorbild der USA.

Wer es sich in Mexiko leisten kann, und das sind in der mexikanischen Kapitale doch Einige, verkehrt hier. Mit dem entsprechenden Kleingeld hat man in diesem Einkaufspalast alle Möglichkeiten sich auszutoben. Lange halte ich mich hier nicht auf.

Zu Fuß gehe ich ins nächste Viertel. Auf dem Weg fallen mir die modernen Hochhäuser mit ihren akribisch geputzten Glasfassaden auf. Es ist wohl der Wunsch Mexikos, mit diesen protzigen Bauten in die Hierarchie der „Global Cities“ aufzusteigen, dabei ist Mexiko nur eine sekundäre Weltstadt in der Semi-Peripherie.

Neben modernsten Bürobauten stehen leere Baracken. Ein bezeichnendes Kennzeichen von Schwellenländern, dass eine schier unglaubliche Armut auf immensen Reichtum stößt. Die Menschen, so musste ich erfahren, wurden aus diesen Baracken vertrieben. Ein Polizist wies mich darauf hin, als ich das Gelände betreten wollte. Ich durfte es nicht.

Am nächsten Tag gehe ich die „Paseo de la Reforma“, die achtspurige Prachtstraße Mexiko-Citys, entlang. Wieder einmal habe ich das Gefühl, mich in einer verkehrten Welt zu befinden, modernste Glasfassaden riesiger Bürogebäude soweit das Auge reicht. Der Wunsch, mit den Weltstädten Schritt zu halten, zeigt sich auch hier überdeutlich. Doch wiederum ist die Armut nicht weit entfernt. Meine zehn Finger reichen nicht aus, um die Menschen zu zählen, die ich entlang der „Prachtstraße“ und in dem davor liegenden Park schlafend auf Pappkartons als Matratzenersatz gesehen habe. Reichtum – Armut, soziale Disparitäten einer Weltstadt in einem Schwellenland, die bei solchen Anblicken nur schwer zu schlucken sind.

Am Nachmittag zieht es mich nach Netzahualcóyotl, einem Vorort, der vor zwanzig Jahren nichts hatte: keine Anbindung ans städtische Transportsystem, keinen Strom, keine funktionierende Wasserversorgung, nur erdrückende Armut. Doch die Stadt, die heute zur Metropolregion Mexico-Citys gehört, hat sich in den letzten zwanzig Jahren stark entwickelt. Hier leben heute über eine Millionen Menschen. Es besteht eine große Migration aus dem Bundesstaat Oaxaca. Die infrastrukturellen Bedingungen haben sich verbessert, man kann sogar mit der Metro Netzahualcóyotl erreichen und es gibt ein Shopping Center. Doch auf der anderen Seite ist das Bild nach wie vor von grauen Bauruinen, alten verstaubten und verkratzten Pkws, überall herumliegendem Müll, Dreck und Armut geprägt.

Dies sind meine individuellen Impressionen einer spannenden, vielfältigen Stadt. Sie hat mich begeistert, auch wenn die sozialen Disparitäten schwer zu verdauen sind.

Aber überzeugt euch selber von der Vielfalt und Magie Mexiko-Citys.

Fotos: Sebastian Prothmann

Buchtipp:
HUFFSCHMIED, ANNE 2008 Paradoxien des Weiblichen im öffentlichen Raum: Überbelichtung, Unsichtbarkeit, Transgression, in: Becker, Anne / Burkert, Olga / Doose, Anne / Jachnow, Alexander / Poppitz, Marianna: Verhandlungssache Mexiko Stadt: Umkämpfte Räume, Stadtaneignungen, imaginarios urbanos, metroZones 8/b_books, Berlin, 2008, S. 247