Cádiz: Ein Streifzug durch die Stadt des Lichts

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„Auf der Palette des Malers gibt es keine Farben von
hinlänglicher Helligkeit und Leuchtkraft, um den
blendenden Effekt wiederzugeben, den Cádiz auf uns
machte. Nur zwei Töne fallen ins Auge: blau und
weiß… Etwas Strahlenderes, ein diffuseres und
gleichzeitig doch grelleres Licht ist nicht
vorstellbar. Ehrlich gesagt,
was wir hier Sonne nennen,
ist verglichen damit nur ein blasses,
dem Verlöschen nahes Kerzenlicht
auf dem Nachttisch eines Kranken…“
(Théophile Gautier: „Reise in Andalusien“, 1843)

Nach wie vor muß man Théophile Gautier in seiner poetischen Kurzdefinition von Cádiz zustimmen. Besonders dann, wenn man sich vom Meer kommend, etwa von Puerto de Santa María, der Stadt nähert, ragt Cádiz wie ein Lichtgebirge über dem Hafen empor.
Als Mittelpunkt der Costa de la Luz wirkt diese weiße, auf einer schmalen Landzunge fast vollständig vom Meer umspülte Stadt an wolkenlosen Tagen wie ein riesiger Reflektor des gleißenden, atlantischen Lichts. Und wolkenlos ist hier nahezu jeder Tag außerhalb der Wintermonate Dezember und Januar, denn statistisch gesehen ist Cádiz die Stadt Europas mit den meisten Sonnenstunden im Jahr und ca. 310 wolkenlosen Tagen. Man könnte also annehmen, daß die 160.000 lebensfrohen Einwohner dieser von der Sonne so begünstigten und mit einem halben Dutzend schöner Strände gesegneten Stadt ein sorgloses und der Bronzetönung ihrer Haut gewidmetes Leben führen. Doch abermals sind es die Zahlen einer Rekord-Statistik, die dagegen sprechen.

Denn Cádiz ist auch die spanische Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote (z.Z. über 20 %). Viele „Gaditanos“ müssen sich demnach eher unfreiwillig als unbeschwert dem Müßiggang hingeben. Die Schiffswerften, die größten Arbeitgeber der Stadt, haben seit den frühen Achtziger Jahren immer wieder Wellen von Entlassungen initiiert, die wie kleine Naturkatastrophen über Cádiz hereinbrachen, und sehen auch jetzt einer unsicheren Zukunft entgegen.

Sobald man den Hafen mit seiner hektischen Betriebsamkeit hinter sich gelassen hat, taucht man ein in die engen Gassen der Altstadt, die zur Siesta, wenn das grelle Licht am erbarmungslosesten wirkt, wie ausgestorben erscheinen. Bei der Erkundung des Stadtzentrums sucht man beinahe vergeblich nach bedeutenden historischen Monumenten. Dies ist umso erstaunlicher, als dass Cádiz als älteste Stadt Europas gilt und ca. 1200 v. Chr. von den Phöniziern gegründet wurde. Für die traurige Tatsache, daß aus über drei Jahrtausenden Geschichte – ganz im Gegensatz zu anderen andalusischen Städten – hier so wenig alte Bausubstanz überdauert hat, sind vor allem die Engländer verantwortlich. Denn die durch den Handel mit Spaniens amerikanischen Vizekönigreichen im 16. Jh. aufblühende Stadt, die den Beinamen „tacita de plata“ („Silbertäßchen“) erhielt, wurde ein Objekt der Begierde für englische Piraten.

In den apokalyptischen Jahren 1587 und 1596 bemächtigten sich Francis Drake und der Graf von Essex der Stadt, plünderten ausgiebig und zerstörten sie vollständig. So erklärt sich der Mangel an arabischen oder gotischen Bauwerken. Heute präsentiert sich Cádiz vor allem als eine Stadt des 18. und 19. Jahrhunderts. Die repräsentativen Monumente stammen aus der Zeit nach 1717, als die Stadt das Überseehandelmonopol von Sevilla übernahm und noch einmal einen großen Aufschwung erlebte.
In dieser Epoche entstand auch die Kathedrale von Cádiz. Wie viele spanische Kathedralen irgendwie zu groß geraten, erscheint sie uns heute wie eine verspätete Demonstration sakralen Größenwahns. Die Kathedrale ist bombastisches Stückwerk geblieben, obwohl sie viele herausragende Kunstwerke zu bieten hat.

Diese sind kurioserweise älter als der Kirchenbau selbst, wie z.B. die 5 Meter hohe „Custodia del Millón“ (17. Jh.), die größte Monstranz der Welt aus massivem Aztekensilber oder die beeindruckende Christusstatue (ca. 1670) von der großen Sevillaner Barockbildhauerin Luisa Roldán und zahlreiche Barockgemälde. Man spürt, daß die Zeit der großen Kathedralen schon längst vorbei war, als dieser riesige Bau begonnen wurde (Grundsteinlegung 1720, Vollendung 1823). Es handelt sich trotz einiger spätbarocker Elemente um eine klassizistische Kirche nach dem Vorbild der Renaissancekathedrale von Granada. Doch die einzelnen Bauteile wollen einfach nicht zueinander passen: die klassizistische Fassade mit ihren plump wirkenden Türmen, die mit goldgelben Kacheln verkleidete Vierungskuppel, der unpassende Kontrast zwischen graubraunem Stein und weißem Marmor. Die enormen Dimensionen sollten offenbar von den stilistischen Unsicherheiten ablenken. Aber trotz ihrer Größe kann man sie keineswegs mit den Kathedralen von Sevilla oder Granada vergleichen, wo Gegensätzliches harmonisch vereint werden konnte.

Cádiz braucht gar keine prägenden Monumente wie seine mißglückte Kathedrale. Es gibt nämlich zwei Elemente, die den besonderen Zauber dieser atlantischen Hafenstadt ausmachen: das unvergleichliche Licht und die grandiose Lage zwischen der Hafenbucht im Osten und den Atlantikstränden im Westen. Wie auf einer Insel türmen sich die Häuser der Altstadt und es gibt kaum eine Gasse, von der man nicht – wie von einem Schiffsmast herab – das Meer erblicken kann.

Cádiz wirkt als wäre es mitten ins Meer gebaut, wie eine schnittige weiße Yacht, deren Bug in die Wellen hinausragt. Aus der Nähe betrachtet, herrscht jedoch in vielen Winkeln der Stadt, die von fern strahlendweiß glänzt, der dekadente Charme des Verfalls, der an Havanna erinnert. So sind beispielsweise direkt neben der Kathedrale gleich mehrere düstere Fassadenskelette anzutreffen.

Abends kann man an der halbkreisförmigen Playa de la Caleta den Tagesausflug nach Cádiz mit einem Bilderbuch-Sonnenuntergang beschließen. Vielleicht fährt man mit dem Zug nach Sevilla zurück. Dann wird man sehen, daß die Landzunge, die Cádiz mit dem „Festland“ verbindet, an den schmalsten Stellen nur etwa 50 Meter breit ist. Zwischen zwei Stränden ist damit gerade noch Platz für die Eisenbahnlinie und die parallel verlaufende Straße. Manchmal scheinen die Wellen fast bis an den Zug zu schlagen. Man kann sich jedenfalls vorstellen, daß diese Landenge gut zu verteidigen war.
Im Jahre 1812 kam es zur strategischen Bewährungsprobe für die einzigartige Lage der Festungsstadt. Ganz Spanien wurde damals von Napoleons Legionen kontrolliert. Ganz Spanien? Nein, die alte, fast schon in Vergessenheit geratene Stadt Cádiz besann sich ihrer militärisch vorteilhaften Lage und verwandelte sich in eine rebellische Insel der Freiheit, die aus dem Meer der Trikolore herausragte. Hierhin waren auch auf abenteuerlichen Wegen die Abgeordneten der Cortes, der spanischen Nationalversammlung aus Madrid vor den französischen Invasoren geflohen.

Und hier, an diesem Punkt im äußersten Südwesten Europas, versammelten sich – unter dem ständigen Kanonendonner der Franzosen – die Cortes in der kleinen Kirche San Felipe Neri. In dieser „spanischen Paulskirche“ erarbeiteten sie eine neue und erstaunlich liberale Verfassung für Spanien, die am 19. März 1812 proklamiert wurde. Leider blieben die schönen Paragraphen dieser Constitución de Cádiz nur Papiertiger, denn das Land, für das sie geschrieben wurden, war in Feindeshand.

Später, als die Franzosen vertrieben waren, kehrte der absolutistisch agierende spanische König Fernando VII. aus dem Exil zurück und beanspruchte erneut die ganze Macht. Dieser Bourbonenkönig war wohl das unwürdigste Geschöpf, das je auf dem spanischen Königsthron saß. Seine Wortbrüche und Intrigen aufzulisten, würde selbst die Festungsmauern von Cádiz sprengen.
Das spanische Volk fühlte sich bald vom eigenen Herrscher schlechter behandelt als von den Truppen Napoleons und so brach 1820 eine Rebellion aus, bei der Cádiz wieder eine Schlüsselrolle spielte. Denn hier nahm man den König gefangen, dem nichts Besseres einfiel, als wieder französische (royalistische!) Truppen ins Land zu holen. Diesmal konnte die Festung Cádiz nicht standhalten und wurde im Oktober 1823 von den Franzosen erobert, die den Tyrannen Fernando VII. „befreiten“. Fortan regierte diese Witzfigur eines Königs wieder und konnte sich seiner Lieblingsbeschäftigung widmen: der Verfolgung von Liberalen und „Ketzern“.
Aber bis heute haben die Bewohner der stolzen Hafenstadt ihre rebellische und liberale Grundhaltung bewahrt. Die Stadt des Lichts ist übersät mit Monumenten, die an die nie wirklich realisierte Verfassung von 1812 erinnern.

Und heute wird hier der populärste (und sehr politisch gefärbte) Karneval des spanischen Festlandes gefeiert. Es ist auch kein Zufall, daß hier die fröhlichste und „hellste“ Form des ansonsten eher düster-schwermütigen Flamencogesangs entstand: die „Cantiñas de Cádiz“, in denen das gleißende atlantische Licht dieser weißen Stadt nahezu hörbar wird.