Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug IV)

„Fünf Tischdecken aus feinstem Stoff, fühlen Sie mal! Weich wie Watte ist das – und erst diese Farben: blau wie das Meer, grün wie ein Kaktus, gelb wie der Wüstensand. Jetzt raten Sie mal, was das alles zusammen kostet. Na? Drei Pesos. Drei Pesos! Ja, bin ich denn verrückt, Ihnen ein solches Angebot zu machen?

die-gesichter-suedamerikasDie Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de

Wohin man in Südamerika auch fährt: Man kann sicher sein, dass nach der Abfahrt, bei einem Zwischenstopp oder bei der Ankunft, in aller Regel sogar bei allen dreien, ein Verkäufer in den Bus springt, der es anschließend auf wundersame Weise versteht, gerade noch abzuspringen, bevor das Gefährt zu sehr an Fahrt gewonnen hat. Das heutige Exemplar war unterhaltsam, rhetorisch versiert und schlagfertig. Nur: Was, um Himmels Willen, sollte ich in der Wüste um San Juán mit fünf Tischdecken anfangen? Wofür könnte ich drei Groschenromane gebrauchen und wo sollte ich einen Zehnerpack Kleiderbügel unterbringen?

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„Danke schön, meine Dame, viel Spaß mit den Tischdecken. Eine gute Wahl, das verspreche ich Ihnen. Jetzt sind Sie alle neugierig geworden, nicht wahr? Völlig zurecht, denn Sie haben vier Stunden Busfahrt vor sich, ohne etwas Schönes in den Händen zu halten oder etwas Anständiges zu lesen. Ist das nicht schrecklich? Ist das nicht der absolute Horror? Aber ich kann Ihr Leiden mildern. Ich kann Ihnen helfen, ja, genau Ihnen, mí amor, denn ich habe das perfekte Mittel, um Ihre Busfahrt so angenehm wie möglich zu gestalten. Etwas so Spannendes haben Sie selten gelesen. Und jetzt raten Sie mal, was diese drei Romane zusammen kosten …“

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„Wollen Sie etwa zur Difunta Correa?“, krächzte die achtzigjährige Dame hinter mir plötzlich, als der eloquente Verkäufer eben die Kleiderbügel an den Mann gebracht hatte und überraschend behände auf die Straße sprang, während unser Bus um die letzte Ecke von San Juán bog, um anschließend die Wüste auf einer schnurgeraden Straße in zwei Teile zu zerschneiden. „Ein Tempel mitten im Nirgendwo, das lasse ich mir nicht entgehen.“ Meine Mitfahrerin klatschte in die Hände und beugte sich ein wenig zu mir vor. „Es wird sich lohnen, junger Mann“, versprach sie mit ihrer rauen Stimme, die entfernt an das Zischen eines Teekessels erinnerte. „Sie werden allerdings der einzige Nicht-Argentinier sein. Für uns ist die Difunta Correa eine Heilige. Jeder Argentinier soll einmal in seinem Leben zu ihr pilgern. Deolinda Correa, so hieß sie ursprünglich, begab sich während des Bürgerkrieges 1841 hochschwanger in die Wüste, durch die wir gerade fahren, um ihren Mann zu suchen. Sie starb in dieser Einöde an Hunger, Durst und Erschöpfung. Doch während sie starb, gebar sie ihr Kind, das zwei Tage lang an ihrer Brust überlebte und schließlich geborgen werden konnte. Was für ein Wunder! Nicht wahr?“ Erschöpft lehnte sie sich wieder in ihren Sitz zurück.

Difunta-Correa-IISeit jener mysteriösen Geschichte ist die Difunta Correa, die „dahingeschiedene Correa“, in Argentinien eine Heilige mit erstaunlicher Anziehungskraft. Die Straßen, die zu ihr führen, sind gespickt mit dem Wertvollsten, was man in einer Wüste zu geben vermag: Überall am Straßenrand sieht man volle Wasserflaschen stehen. Dort, wo die Tote einst mit dem lebenden Säugling gefunden worden war, steht inzwischen eine Kirche. Über eine Million Devotionalien und Geschenke sind rundum verstreut. Lenkräder, Windschutzscheiben, Kleider, Pokale, Miniaturhäuser und ganze Autos haben sich zu einem immensen Schrein gesammelt, der inmitten der unerbittlichen Einöde steht und stetig anwächst. Eine Feinheit der spanischen Sprache sorgt dafür, dass Difunta Correa frei übersetzt auch soviel heißt wie „gerissener Keilriemen“. Überall um die kleine Kirche herum liegen darum Keilriemen und Nummernschilder im Wüstensand. Auch aufgrund dieser linguistischen Zweideutigkeit ist die Difunta Correa zur Schutzpatronin aller Fernfahrer avanciert.

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Die Mitfahrerin mit der Teekesselstimme bot an, mir die „heiligste Stätte Argentiniens“ zu zeigen. Gemeinsam drückten wir uns aus dem Bus und hoben zeitgleich schützend die Hände über unsere Augen. Die Sonne stand wie ein gelbes Auge am Himmel und durchbohrte uns mit ihrem Blick. Nach fünf Schritten besprenkelten Schweißtropfen meine Stirn; nach zehn begannen sie, an meinem Gesicht hinabzugleiten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass eine junge Frau wie Deolinda Correa unter ähnlichen Bedingungen ihr Leben im Wüstensand ausgehaucht hatte. Zum Glück bestand das Heiligtum Argentiniens in erster Linie aus Schreinen in Hausgröße, die ein wenig Schatten spendeten. In einem Haus befanden sich ausschließlich Brautkleider, die der Difunta Correa gewidmet waren. Im nächsten fanden wir Pokale, im dritten Bilder von Haustieren. Es gab Schreine für Studenten, für Sportler, für Soldaten, für Lastwagenfahrer und für Verliebte. Eine junge Frau warf sich zu Boden und stammelte Dankesgebete. Überall waren Inschriften angebracht. „Difunta Correa, Tausend Dank dafür, dass du meinen Lastwagen mit dem Kennzeichen … auch in diesem Jahr beschützt“. „Difunta Correa, bitte sorge dafür, dass Alejandro mich endlich liebt“. „Difunta Correa, wir bitten dich, schütze unser Haus, auf dass es vor Sturm und Erdrutsch sicher sei“

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Ein wenig ungewohnt kam mir die tiefe Spiritualität der Argentinier an diesem Ort vor – zumal mir meine Reiseführerin erklärte, dass jeden Sonntag eigens ein Priester zur Difunta Correa eilte, um Lastwagenmotoren, Miniaturhäuser und Sportpokale zu segnen. Gleichzeitig war ich beeindruckt von der Intensität, mit der die Anwesenden ihren Glauben ausdrückten. Ähnlich wie mir muss es der katholischen Kirche in Argentinien ergangen sein. Zwar hat sie bis heute die Difunta Correa nicht als Heilige anerkannt. Doch organisieren mehrere Pfarrgemeinden inzwischen Wallfahrten in die Wüste bei San Juán, um die argentinische Schutzpatronin zu besuchen. Auch sie scheinen erkannt zu haben, wie viel Kraft von diesem Ort ausgeht.