Bücher zu Brasilien – Mehr als eine Einführung (06/2014)

Der Band „Brasilien. Eine Einführung“ ist für all diejenigen Leser interessant, die sich über ihre Reiseführer hinaus mit dem Land vertraut machen wollen. Der landeskundliche Beitrag von Martin Coy versorgt den Leser mit dem nötigen geographischen, naturkundlichen und historisch-ökonomischen Basiswissen, um die weiteren Informationen einordnen zu können.

Brasilien. Eine Einführung
Peter Birle (Hrsg.)
Vervuert, Frankfurt a.M., 2013
298 Seiten

Es folgen Artikel zu politischen Themen (System, Rechtsstaat, Sozialpolitik, Bildungspolitik, Wirtschaft, Internationaler Akteur), die nach wie vor große Probleme aufzeigen (z.B. Armut, Korruption, Umweltzerstörung), aber vor allem Brasiliens positiven Weg vom Entwicklungs- zum Schwellenland beschreiben. Dadurch, dass die staatliche Politik mit der Formel „Wachstum mit Inklusion“ versehen wurde, schuf man die Voraussetzungen, um weitere Teile der Bevölkerung ins sozioökonomische, aber auch kulturelle Leben einzubeziehen, wozu natürlich auch die Fortschritte im Bildungssystem gehören, ohne die eine moderne Gesellschaft nicht entstehen kann. Allerdings haben 93% der Brasilianer noch nie eine Ausstellung besucht, 92% noch kein Museum betreten und 87% waren noch nie im Kino.

Der sehr kluge Artikel von Horst Nitschack zur „kulturellen Dynamik Brasiliens“ leitet den „Kulturteil“ des Buches ein, der sich mit Musik, Film, Fernsehen, Literatur und nicht zuletzt mit Fußball beschäftigt. Nitschack, der damit beginnt historisch zu begründen, warum die brasilianische Kultur international nicht die gleiche Verbreitung wie die hispanoamerikanische gefunden hat (u.a. weil die Portugiesen ihre Kolonie auf einem niedrigen Bildungsniveau hielten) – was mit Einschränkungen für die Musik nicht gilt – , beschreibt im weiteren Verlauf, wie aus der Vermischung afrikanischer, indianischer und verschiedener europäischer Kulturen langsam, und nicht ohne Widerstände überwinden zu müssen, etwas Neues entstand. Denn im Großen und Ganzen wurde die Vermischung der Rassen spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Chance gesehen, was eine gewisse „Einweißung“ der afrikanischen Elemente und den vorhandenen Alltagsrassismus nicht ausschließt. Nitschak beschreibt, wie die Populärkultur im 20. Jahrhundert von einem ländlichen zu einem urbanen Phänomen wurde und dass diese – vornehmlich Fest- und Musikkultur – keine schichtspezifischen Grenzen kennt. Intellektuelle, wirtschaftliche und politische Eliten suchen sogar oftmals ihre Nähe und dass nicht nur aus opportunistischen Gründen. Im Jahr 1922 forderten Oswald de Andrade und die Kunst-Avantgarde in ihrem Manifest „Brasilholz“, dass Brasilien zu einer Kulturexportnation werden solle, und das ist, zumindest was die Musik betrifft, auch gelungen.

An den unterschiedlichsten Orten der Welt hören wir brasilianische Musik. Namen wie Tom Jobim, Astrud Gilberto oder Gilberto Gil sind weltweit bekannt und – neben einigen Fußballern – DIE Aushängeschilder Brasiliens. Marcel Vejmelka beschreibt in seinem Artikel über die „städtischen Kulturen und Bewegungen“ nicht nur die Musikstile, die sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in den Armenvierteln gebildet haben – Samba Reggae in Salvador da Bahia, Manguebeat in Recife, Bailefunk in Rio, Hiphop in São Paulo – und dank der neuen Medien international erfolgreich wurden, sondern auch deren soziale Auswirkungen, da sie zumeist mit Projekten für Arme, kriminelle Jugendliche, Umweltschutz o.ä. zusammen hängen.

Cornelius Schlicke hingegen beschäftigt sich mit der „Identitätskonstruktion in der populären Musik“. Nach einer vor allem für eine „Einführung“ eher zähen theoretischen Einleitung, deren Kritik an der bisherigen Darstellung der Musikgeschichte er im Laufe seines Beitrags kaum untermauern kann, folgen Abhandlungen über Samba, Bossa Nova, MPB und die schon zuvor genannten, neueren Stile (und tecnobrega), in denen er anhand interessanter Details deren historische Entwicklung nachzeichnet. Dabei legt er seinen Schwerpunkt auf die Rassenthematik und zeigt, wie auch zuvor Marcel Vejmelka, dass sowohl der Aufstieg des Samba zur Nationalmusik als auch die neueren Musikstile zu einem steigenden Selbstbewusstsein der afrobrasilianischen Kultur geführt haben. Leider finden durch diesen, auf das „typisch“ Brasilianische konzentrierten Ansatz, einmal mehr interessante Entwicklungen in anderen modernen Musikstilen, wie Rock, Elektronik, Jazz, und auch in der Kunstmusik keine Plattform.

Vor allem im WM-Jahr ist ein Artikel über den brasilianischen Fußball angezeigt. Ganz Brasilien ist nicht nur einfach so fußballverrückt, sondern hat auch gewichtige Gründe dafür: das Land hat als einziges an allen bisherigen 19 WMs teilgenommen, und es hat sie fünfmal gewonnen. Frank Stephan Kohl erzählt die – bis auf den Beginn – erfolgreiche, aber oft dramatische Fußball-WM-Geschichte, beleuchtet die Besonderheiten des brasilianischen Fußballs (mulattischer Stil) und reflektiert die Kritik am Megaevent WM 2014. Klar ist: Sobald das erste Spiel angepfiffen ist, wird für vier Wochen jede Kritik verstummen.

Wer nun noch mehr über Brasilien wissen möchte (ohne hinzufahren), der sollte sich den 786 Seiten starken Band „Brasilien heute“ zulegen, in Deutschland immer noch das Standardwerk zum Land. Dort werden sowohl die o.g. Themen behandelt, als auch Stadtplanung, Umweltschutz, Energiewirtschaft, Körperkult, Religion uvm. Außerdem geht es in neun Artikeln um die deutsch-brasilianischen Beziehungen.

Brasilien heute
Sérgio Costa, Gerd Kohlhepp, Horst Nitschack, Hartmut Sangmeister (Hg.)
Vervuert, Frankfurt a.M., 2010
786 Seiten

 

 

 

 

Wen dieses Thema (Beziehungen Brasilien – Deutschland) detaillierter interessiert, dem sei der Band „Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen“ empfohlen. In seiner Einführung gibt Dietrich Briesemeister einen sehr guten und kompakten Überblick über die Entstehung unserer Wahrnehmung des Landes. Er wertet die historischen Schriften und Dokumente aus, die „Schuld“ daran sind, wie wir heute die Brasilianer sehen, angefangen mit einem Dokument aus dem Jahr 1515, über Hans Stadens Bericht (1557) bis zu den Berichten von Reisenden und Wissenschaftlern im 19. Jahrhundert.

Deutsch-brasilianische Kulturbeziehungen
Wolfgang Bader (Hrsg.)
Vervuert, Frankfurt a.M., 2010
352 Seiten

Einen bleibenden negativen Einfluss hatten vor allem die beiden Schriften von Cornelius de Pauw (1769) und des Grafen Buffon (1750-85), die beide in ihrem ganzen Leben das Land nie besucht hatten, aber seine Bewohner als unterlegene und minderwertige Rasse beschrieben. Geistesgrößen wie Kant, Hegel und Herder ließen sich davon blenden und verbreiteten dieses Bild weiter. Nahtlos kann man die beiden Artikel über die gegenseitige Wahrnehmung in den aktuellen Medien an diese Lektüre anschließen (ein Vorteil dieses Buches liegt darin, dass fast immer beide Sichtweisen dargestellt werden), denn weiterhin beherrschen Klischees die Bilder, selbst wenn man „Medien“ wie die ausschließlich auf diesen beruhende BILD vernachlässigt. Steife Ingenieure, die gute Autos bauen, oder Eisbein schwingende Bayern beherrschen die Vorstellung auf der einen, leicht bekleidete Sambatänzerinnen, Fußballer und Drogenbarone auf der anderen Seite. Was auch darauf zurückzuführen ist, dass Medien aus beiden Ländern keine bzw. nur wenige Korrespondenten im anderen Land haben, und somit auf die Auswahl internationaler Nachrichtenagenturen angewiesen sind.

Aber auch die Artikelpaare zu Literatur, Theater, Film, Philosophie, Musik etc. sind – je nach Interesse – sehr lesenswert. Im Artikel zum Portugiesischen in Deutschland wird auch das wechselseitig übernommene Vokabular der Gastronomie erwähnt (Caipirinha, Apfelstrudel etc.), ein Artikelpaar zu diesem interessanten Kulturthema fehlt leider.

Warum klingt brasilianische Musik für uns zugleich fremd und vertraut? Regine Allgayer-Kaufmann nennt in ihrem Artikel „Brasilianische Musik in Deutschland“ als einen Grund, dass mit der ab dem 16. Jahrhundert in Brasilien eingeführten portugiesischen Kirchenmusik die Dur-Moll-Tonalität und der Takt, zwei wichtige Eigenschaften der abendländischen Musik, für die dortige Musik grundlegend wurden. Sie klingen vertraut. Als fremd und exotisch erscheinen uns die nicht an dieses System gebundenen Rhythmen aus Afrika, als zweiter Einfluss. Die daraus entstandene neue Musik fasziniert die meisten Hörer. Als Beispiele aus der Populärmusik dienen ihr der Schlager „Schuld war nur der Bossa Nova“ und die Filmmusik zu „Orfeu negro“ dazu, den Erfolg brasilianischer Klänge hierzulande zu erklären. Allerdings beklagt sie die oberflächliche Rezeption dieser Musik und empfiehlt einige Maßnahmen zur Verbesserung dieses Zustands, die allerdings alle nur im (elitären) Wissenschaftsbereich angesiedelt sind und somit keine Breitenwirkung entfalten würden.

Ihr brasilianischer Gegenpart Julio Medaglia beschreibt in seinem interessanten, aber leider sehr kurzen Beitrag u.a. die wichtige Rolle, die der deutsche Musikwissenschaftler Franz (Francisco) Kurt Lange für die brasilianische Musikgeschichte spielt. Denn durch seine Entdeckung alter Partituren konnte er ihren Beginn um ein Jahrhundert vorverlegen. Aber auch die Bedeutung Richard Wagners als Vorbild wird hervorgehoben und nicht zuletzt diejenige von Hans-Joachim Koellreutter, der ab 1937 in Brasilien wirkte und zur wichtigsten Figur der musikalischen Avantgarde im Land avancierte. Nicht unwichtig waren auch die dynastischen Verbindungen des brasilianischen Kaiserhofs (1822-1889) mit Österreich und Bayern, als deren Folge deutsche Musiker ins Land kamen, brasilianische Komponisten in Deutschland studierten, aber auch Wagner in schweren Zeiten aus Brasilien großzügige Unterstützung erhielt. Insgesamt sehr lesenswert!

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