Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug II)

Bereits einen Tag nach meiner Ankunft im Norden Argentiniens begannen auch für mich die Abenteuer, von denen in Mendoza jeder sprach. Ich konnte mich der Mischung aus freudiger Erwartung kommender Erlebnisse und abgebrühter Weitergabe von Heldentaten nicht entziehen. Als die Sonne über die Berge lugte, die sich durch die Wolken bohrten, als wollten sie nachsehen, was darüber war, stieg ich in einen Kleinbus, der mich zum Río Mendoza brachte. Das Teilstück nahe Mendoza hatte es in sich. Ungehemmt brauste und zischte das Wasser des Río Mendoza hier die Ostflanke der Andenkordillere hinab in die argentinische Halbwüste. Es riss Äste und Steine mit sich und prallte ungebremst gegen scharfkantige Felsen. Sein Wasser war vom aufgewühlten Schlammboden dunkelbraun gefärbt.

die-gesichter-suedamerikasDie Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de

Kurzum: Östlich von Mendoza boten sich optimale Bedingungen für ein Raftingabenteuer der besonderen Art. Doch noch wusste keiner von uns Businsassen, dass uns die bevorstehende Schlauchbootfahrt bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit bringen würde – und manche von uns darüber hinaus.

Vamos, vamos, feuerte uns „Monkey“ an, als wir am Fluss ankamen. Unser Schlauchboot-Steuermann trug seinen Spitznamen zu recht. Er war breit und kräftig gebaut, braun gebrannt und trug eine wilde Haarpracht, die er von Zeit zu Zeit heftig um sich schüttelte. Ohne Unterlass erzählte er uns Witze auf Spanisch, wobei es ihn nicht sonderlich kümmerte, dass die Hälfte von uns seine Pointen nicht mitbekam, weil er in einer Geschwindigkeit sprach, die den Wasserfall kurz oberhalb unserer Bootseinstiegsstelle vor Neid hätte erblassen lassen. Jeder von uns bekam einen alten, zerkratzten Helm auf den Kopf gesetzt und eine Schwimmweste umgebunden, die in meinem Fall leider durch mehrere Löcher außer Gefecht gesetzt worden war. Ein Gefühl behaglicher Sicherheit vermittelten uns diese Utensilien nicht gerade. Doch schließlich waren wir hier, um etwas zu erleben.

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Vidal hatte direkt hinter mir Platz genommen. Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Neugier und Ängstlichkeit, je nachdem was „Monkey“ gerade erzählte. Als unser Steuermann gestenreich ausschmückte, wie vor einigen Wochen nur zweihundert Meter flussabwärts ein Tourist beim Rafting ertrunken war, nachdem er mit dem Kopf gegen einen der vielen Felsen geschlagen war, wurde Vidals Gesicht etwas blass. Jedoch – jetzt gab es kein Zurück mehr. In zwei Reihen saßen wir im Schlauchboot, drei auf jeder Seite, und jeder mit einem Paddel bewaffnet. Mein Platz war ganz vorne links, hinter mir saß Vidal, gefolgt von einer zierlichen Argentinierin, die furchtsam auf das tosende Wasser blickte, das vor unseren Augen talwärts schoss. Vielleicht wollte sie Buße für irgendeine Sünde ablegen oder hatte eine alberne Wette verloren. Zumindest machte sie nicht den Eindruck, dass ihr das, was ihr bevorstand, sonderlich viel Spaß machen würde. Das traf auch auf den jungen Brasilianer zu, der ihr gegenüber auf der rechten Seite saß. Obwohl er ein stämmiger junger Mann war und sich unter seinem T-Shirt ein durchaus ansehnlicher Bizeps abzeichnete, hatte sich eine Furcht in seinem Blick eingenistet, die er nicht verstecken konnte. Er komme aus São Paulo, hatte er uns auf der Herfahrt erzählt. Vielleicht war er zum ersten Mal richtig „draußen“ aus der riesigen Stadt. Vor ihm saß hingegen ein deutsches Pärchen, das zu allem bereit war. „Yippiieh, jetzt geht’s los“, jauchzte die junge Frau, als „Monkey“ unser Schlauchboot an den Rand des Ufers zog. Ihr Freund blickte bereits entschlossen auf das Paddel in seiner Hand, als wolle er nach geglückter Raftingtour gleich noch einen Hai damit erschlagen. Dann ging plötzlich alles ganz schnell.

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¿Listo?, „bereit?“, hörte ich „Monkey“ noch fragen, und bevor wir etwas antworten konnten, hatte er unser Schlauchboot über den Uferrand hinweg ins Wasser geschubst. Sofort schwappte der aufgewühlte Dreck des Flusses auf unserer Seite ins Boot. Die Argentinierin, Vidal und ich schrieen überrascht auf, als wir unvermittelt bis zur Hüfte im eiskalten Wasser saßen. Noch bevor unser Kollektivschrei verklungen war, packte uns der Fluss und warf uns talwärts. Es war ein Gefühl wie in einem dieser neuen, spektakulären Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten, die abrupt ihre Richtung ändern. Genauso wurden wir gepackt, hin- und hergeworfen wie ein Ball, urplötzlich in die Seite gestoßen, nach links weggedrückt und um die eigene Achse gedreht. Nur dass keine Maschine unter uns ein festgelegtes Programm abspulte, sondern dass wir stattdessen mit einer Kraft konfrontiert waren, deren Ausmaß uns alle überraschte. Vermutlich überraschte sie auch „Monkey“, unseren Steuermann, dessen Kommandos wie von Ferne zu uns drangen.

„Forward, forward!“, brüllte er aus Leibeskräften – und doch kam seine Stimme als ein Flüstern bei mir an, während der Fluss um uns herum tobte und meterhohe Wellen frontal gegen die Felsen warf. „Left, left!“, schrie er jetzt und ich stieß das Paddel tief hinab in das Wasser und zog es mit aller Kraft nach hinten weg. „Merde, putain!“, hörte ich Vidal hinter mir ausrufen, was an dieser Stelle unübersetzt bleiben wird.

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Keinen halben Meter links vor mir tauchte etwas Großes, Schwarzes aus dem Wasser auf. Wütend preschte der Fluss sofort wieder darüber hinweg. Ich hatte gerade noch Zeit, das Paddel aus dem Wasser zu ziehen, dann schrammten wir haarscharf an dem gezackten Felsen vorbei. Abermals schrie die Argentinierin auf. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass ihr Paddel ins Wasser gefallen war. „Monkey“ hatte Schweißperlen auf der Stirn, vielleicht auch Flusswasser und brüllte ununterbrochen „right, right!“, während er panisch im Wasser herumstocherte.

So langsam fragte ich mich, ob bei uns gerade wohl alles so verlief, wie es ursprünglich gedacht gewesen war. Als zwei mit neonfarbenen Rettungswesten bekleidete Männer am rechten Ufer wild gestikulierend zu ihren Kajaks rannten, dämmerte mir, dass meine Begegnung mit dem Río Mendoza intensiver werden würde, als ich es vor unserer Abfahrt gedacht hatte. Und dann hörte ich über die tosenden Wellen hinweg, wie unser Steuermann „Shit!“, rief.

Noch während ich dachte, dass das doch ein ziemlich anrüchiges Kommando sei, fuhr Adam Smiths „unsichtbare Hand“ unter unser Schlauchboot, hob es auf einen Wellenkamm und ließ es dann genüsslich in ein zwei Meter tiefer gelegenes Tal krachen. Mein Magen blieb zunächst oben auf dem Kamm kleben, um dann mit umso mehr Wucht nach unten zu fallen. Unglücklicherweise befand sich am Ende des Wellentals ein enormer Felsen, kaum weniger gezackt als der vorherige. „Monkey“ zog sein Paddel ins Boot und krallte sich am Seil fest, das an der Außenseite des Schlauchboots befestigt war. Sein Gesicht war ein einziges Ausrufezeichen. Dann schlug der Fluss zu.

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Unser Boot rammte den Felsen frontal und wurde zusammenquetscht wie eine Ziehharmonika. Wir purzelten durcheinander, hielten uns an Beinen, Armen, Seilen fest und sahen gerade noch, wie sich eine schwarze Wand vor uns auftürmte. Von unserer Perspektive aus verdeckte sie die Sonne. Dann machte unser Boot unvermittelt einen Satz zur Seite und flutschte einfach unter uns weg.

Irgendetwas bohrte sich in meine rechte Flanke. Als ich über den Bootsrand blickte, sah ich die Argentinierin, die Deutsche und „Monkey“ im braunen Wasser des Flusses. Die linke Seite unseres Bootes bäumte sich auf, während die rechte unter Wasser getaucht wurde. Ich hörte, wie Vidal in meinem Rücken etwas schrie und drehte mich zu ihm um. Da kam er auch schon auf mich zugeflogen. Mit voller Wucht stieß er in meinen Rücken. Für einen Moment blieb mir die Luft weg. Dann sah und spürte ich gar nichts mehr.

Als ich die Augen öffnete, war ich unter Wasser, mitten in den braunen Fluten. Eine Kraft, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte, drückte mich hinab; gleichzeitig zerrte etwas so heftig an mir, schleuderte mich in irgendeine Richtung, dass jeder Widerstand zwecklos war. Wieder spürte ich sekundenlang nichts. Ich wusste nicht, ob ich gegen Felsen gedrückt wurde oder den Grund des Flusses entlangscharrte. Dafür handelte mein Körper mit beneidenswerter Logik, wie mir erst später bewusst werden sollte.

„Zusammenrollen“: Der Impuls musste vom zentralen Nervensystem gekommen sein, weil mein Gehirn höchstens auf Halbmast hing. Als ich wieder denken konnte, fand ich mich jedenfalls zusammengeringelt vor, Arme und Beine leicht angewinkelt von mir gestreckt, um etwaigen Hindernissen begegnen zu können. Meine ganze Kraft galt jetzt der Erfüllung eines einzigen Wunsches: Luft!

Ich riss die Augen auf, sah einen hellen Streifen und schwamm aus Leibeskräften darauf zu, bis ich plötzlich durch die Wasseroberfläche schoss. Ich sog einen Atemzug lang das lebensrettende Element in mich hinein, japsend und prustend wie nach einem Hundertmetersprint. Dann holte mich der Fluss zurück.

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Wieder wurde ich unter Wasser gedrückt, fortgerissen, hin- und hergeworfen. Mit der Luft war auch das Gefühl in mich zurückgekehrt, was einerseits beruhigend war, sich andererseits jedoch nicht nur als Vorteil erwies: Das Wasser war eiskalt und brannte auf meiner Haut. Mein Rücken sendete pochende Schmerzwellen durch den Körper und meine rechte Seite antwortete ihm regelmäßig darauf. Zum Ausgleich konnte ich wieder logische Schlussfolgerungen aus meinen Beobachtungen ziehen. Ich hielt die Hände schützend vor meinen Kopf und winkelte meine Beine an, um mich notfalls von den Felsen wegstoßen zu können, die sich mir in den Weg stellten. Ich sah sie auf mich zustürzen, sah mich ausweichen, sah, wie ich haarscharf an ihnen vorbeischoss, wie schmutzigbraune Wellen auf mich zurollten, mich im nächsten Augenblick verschluckten und unter Wasser hielten, um mich gleich darauf wieder loszulassen. Ein seltsamer Tanz war das, bei dem die Kräfte erschreckend ungleich verteilt waren. Ähnlich müsste sich wohl die Tanzpartnerin von Arnold Schwarzenegger vorkommen, die er beim Rock n’ Roll durch die Luft wirbelte.

Später sollte ich erfahren, dass unser Boot den Felsen spektakulär gerammt hatte. Es wurde einfach umgedreht und ich wurde mitten in einen Strudel geschleudert, der mich etwas länger als zwanzig Sekunden unter Wasser gehalten hatte. Die Wellen hatten uns alle einfach in die Flut gewischt. Vom Ufer aus hatte es wie eine beiläufige Handbewegung des Flusses gewirkt, in etwa so wie man lästige Fliegen auf einer Suppe verscheucht.

Über eine Viertelstunde lang wurde ich flussabwärts gerissen, sah eine Kuhherde am rechten Ufer an mir vorbeigleiten und bekam, sobald ich auf einem Wellenkamm war, mit, wie die beiden Kajakfahrer hektisch Leute aus dem Wasser zogen. Ich wunderte mich, warum das alles so lange dauerte, bis nach einer gefühlten Stunde endlich etwas Rotes neben mir auftauchte und mir eine Stimme über die gischtbeladenen Fluten hinweg zubrüllte, dass ich mich daran festhalten solle.

Ich krallte meine Hände in den roten Fleck hinein, der sich als das Heck eines Kajaks entpuppte, und der Fahrer paddelte mit aller Kraft Richtung Ufer, weg von den Felsen und Strudeln und braun gefärbten Wellen. Kurz darauf erreichten wir das seichte Wasser am rechten Flussrand, und ich konnte mich aufstellen. Noch immer brandete das Wasser über meine Knie hinweg.

„Die Anderen sind alle schon aus dem Wasser“, erklärte mein Retter mit breitem Grinsen. „Du hast einen so sportlichen Eindruck auf mich gemacht, wie Du da vorne in dem Boot gesessen bist und das Paddel in den Fluss gestoßen hast. Da habe ich mich erst um alle Anderen gekümmert und Dich stromabwärts treiben lassen. Hat doch prima geklappt, richtig? Ich bin übrigens Hector.“

Hector streckte mir seine Rechte entgegen und entblößte eine gelbbraune Zahnreihe. Angesichts seiner in ein Kompliment gehüllten Erklärung konnte ich ihm nicht böse sein – umso weniger, als ich gleich darauf von ihm erfuhr, dass manch Anderer seine Hilfe tatsächlich dringender benötigt hatte. Der Brasilianer aus São Paulo war bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. Hector hatte ihn als Dritten aus dem Wasser gezogen und mitangesehen, wie er sich am Ufer mehrfach übergab.

„Er hat zu viel Wasser verschluckt und stand wohl von Anfang an unter Schock“, sagte Hector. Das Gesicht des Brasilianers sei ganz grün gewesen, „wie Spinat“. Wieder zeigte mir Hector seine nikotingeplagten Schneidezähne. Der Mann sollte dringend Zahnseide verwenden, sonst drohte er zum Liebling aller Zahnärzte Mendozas zu werden.

„Dass gleich alle vom Schlauchboot gespült werden, kommt alle paar Jahre nur einmal vor“, zeigte sich mein plaquegeplagter Retter verwundert, „der Fluss ist aufgewühlt heute und verhält sich wie eine stampede!“

„Ja, das war wirklich ein Privileg“, gab ich zurück und blinzelte Hector an. Außer einem blauen Fleck, der sich auf meiner rechten Seite ausbreitete, hatte ich weder durch die Kollision mit dem Felsen noch durch meinen unfreiwilligen Tauchgang Schaden davongetragen.

Zu guter letzt sollte sich mein Wort vom Privileg gar noch bestätigen. Während „Monkey“ bei seinen Kameraden in Ungnade gefallen war, weil er, wie es Hector ausdrückte, „gerade versucht hat, sechs Touristen zu versenken“, bot uns „Loco“, der während unserer Irrfahrt am Ufer stand und pausenlos filmte, an, dieselbe Tour ein weiteres Mal zu machen.

„Wenn ich Euer Steuermann bin, fallt Ihr garantiert nicht ins Wasser“.

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Sofort sagten die beiden Deutschen, Vidal und ich zu. Zu viert positionierten wir uns erneut im Boot, dort, wo wir bereits einmal in den Fluss eingestiegen waren. Dann ging die wilde Hatz von Neuem los. „Loco“ brüllte noch lauter als „Monkey“. Besondere Freude machte es ihm, unser Schlauchboot direkt auf einen Felsen zupreschen zu lassen und erst im letzten Moment haarscharf links oder rechts daran vorbeizuschlittern. In solchen Momenten jauchzte er auf und ließ nach geglücktem Manöver entweder ein „eso!„, frei übersetzt: „So macht man das!“, oder ein helles, ins Irre übergehende Lachen hören, bei dem sich uns die Haare aufstellten.

Was während unserer zwanzigminütigen Fahrt geschah, lässt sich schwer rekapitulieren, weil wir die meiste Zeit inmitten der Gischt waren und die Paddel mit Leibeskräften links oder rechts durch die Fluten zogen. Irgendwie schafften wir es, zwischen den Felsen hindurchzupreschen, statt frontal mit ihnen zusammenzustoßen. Am Ende gelangten wir in einen See, auf dem wir gemächlich gen Ufer dümpeln konnten – während „Loco“, immerhin unser Steuermann, kurzerhand über Bord gesprungen war, um sein Temperament zu kühlen.

Am Ende des heutigen Tages nahm Vidal eine Prellung am linken Knöchel mit nach Hause, der Deutsche hatte zum Andenken ein blutiges Rinnsaal dabei, und mein Souvenir war der erwähnte blaue Fleck auf der rechten Seite. Während diese äußeren Zeichen rasch verblassen sollten, würde uns die Erinnerung an diesen denkwürdigen Tag noch lange Zeit weiter beschäftigen.

„Loco“ bedeutet übersetzt übrigens nichts anderes als „Spinner“

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Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires