Traubiges: Novembersonne

Del Pedregal Selección 2015 Chardonnay, Antigua Bodega Stagnari

Ich wurde geboren in einer Welt, in der nichts ewig ist, nichts für immer hält. Nicht einmal das Licht. Es kommt es, es geht. Es bleibt wie es will, mal länger, mal kürzer. Manchmal taucht es gar nicht auf – und dann fürchte ich, es nie wieder zu sehen. Nie wieder seine Kraft zu spüren. Es ist wie die Liebe.

Und ich kann nichts machen.

Ich will dieses Leben nehmen und es leben, wie es sich mir schenkt. Will verstehen, dass auch die Dunkelheit ein Ausdruck der Liebe sein kann. Also nehme ich hin, einen Teil meines Weges im Dunkeln zu gehen. Ich atme, ich halte mich aufrecht, ich setze einen Fuß vor den anderen. Und ich finde, dass ich das gar nicht so schlecht mache.

Doch ich will mehr vom Leben. Ich will wach sein und meine Sinne spüren. Meine Kraft und meine Wärme, meine Hoffnung, meine Leidenschaft, meine Klarheit, das Meer in mir, meine Wut und meinen Mut, meine Schuld und meine Ungeduld. Mein Ja zu diesem Leben und seiner Schönheit – auch in der Dunkelheit. Aber ich will kein Produkt der Dunkelheit sein.

Also muss ich aufstehen.

Dafür braucht es eigentlich gar nicht viel. Ich muss nur rübergehen zum Kühlschrank. Hineingreifen und mir eine Flasche nehmen von dem Chardonnay, der die Sonne in sich trägt, die ich gerade so sehr vermisse.

Ich verscheuche meine Selbstzweifel und meine Angst, und ich scheiße auf den inneren Mahner, der mir einflüstern will, dass ich Trost nur im Alkohol finden kann. Ich öffne die Flasche.

Dann beginnt der Zauber.

Ich schaue und ich höre dabei zu, wie der Wein plätschernd in mein Glas fließt. Wie es sich langsam füllt. Wie sich ein See leuchtenden Lichts darin bildet. Ein strohgelbes funkelndes Licht. Es erinnert mich augenblicklich an endlose Spätsommerabende. An Spaziergänge über abgeerntete Felder und durch hohes Gras, an einen Himmel, der noch hell vom Tag leuchtet. Aber an dem sich auch silbern, grün und golden die ersten Vorboten der Nacht zeigen.

Dann füllt eine fürstliche Aromenvielfalt meine Nase. Sie ist üppig, reich und vielschichtig. Zitrusfrüchte und feine Kräuter paaren sich mit Noten von Heu, Buttertoast, Vanille und Mandeln.

Meine Sinne tanzen.

Nur ein einziger Schluck. Schon setzt sich dieser prächtige Reigen an meinem Gaumen fort. Frisch und lebendig. Opulente Frucht in einer kraftvollen Balance mit dem leidenschaftlichen Nerv dieses Weins: Mineralität – gepaart mit einer feinen Säure. Geradlinig und saftig. Der Nachhall schließlich fein, würzig und immer noch aromatisch.

Noch ein Schluck. Meine Lebensgeister kehren zurück. Ich mache Musik an und bewege mich zum Rhythmus der Klänge. Erst verhalten, dann immer leichter. Das Licht in meinem Glas füllt mich mit Zuversicht und Unbeschwertheit. Mein Körper fühlt sich leicht wie eine Feder an. Schwerelos. Grenzenlos.

Pedregal heißt dieser Wein des uruguayischen Weinguts Antigua Bodega Stagnari. Pedregal, die Steinwüste. Der Name verrät einiges über den Boden, in dem seine Rebstöcke wurzeln. Trockener, von Steinen und Granitfelsen durchsetzter harter Boden. Tief müssen die Wurzeln graben, um an Wasser zu gelangen. Dabei durchdringen sie Steine und Erde. So gelangen die Mineralien in den Körper des Weins.

Das braucht Zeit.

Jahrelang bohren sich die feingliedrigen Fühler der Wurzeln immer tiefer. Nichts hält sie auf. Auch sie bewegen sich in der Dunkelheit. Die Wärme der Sonne, die weit oben über ihnen scheint, erreicht sie nicht. Kein Licht erhellt ihren Weg.

Aber sie geben nicht auf.

Langsam und beständig nähren sie sich. Und durch ihr bloßes Dasein halten sie auch die anderen Teile des Rebstocks am Leben. Sie spenden den Trauben das Wasser, das sie brauchen, um zu wachsen. In ihnen speichert sich auch die Kraft der Sonne. So entsteht der Saft dieses Weins, dessen Licht mich wieder leuchten lässt.

Als wäre es das Leichteste der Welt.

Das Wissen um dieses Zusammenspiel gibt mir Kraft. Alles gerät in Bewegung. Auch in der Dunkelheit. Noch ein Schluck. Mein Weg geht weiter.


Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de wird er ab jetzt jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika berichten.