Starke Frauenstimmen

Carminho, Cristina Branco und Mísia haben im Jahr 2019 schöne und interessante Alben herausgebracht, sie alle erneuern den Fado beständig, seine Instrumentierung, seine Texte oder erweitern ihn durch die Vermischung mit anderen Genres.

Das Album von Lina dagegen ist revolutionär: sie und ihr Produzent und Mitspieler Raül Refree verzichten auf sämtliche traditionellen Instrumente und begnügen sich – mit einer Ausnahme – mit Klavier und Mini-Moog (analoger Synthesizer). Und schlagen damit einen noch radikaleren Weg ein als DJ Stereossauro, der in seinen „elektronischen Fados“ immerhin noch die portugiesische Gitarre erklingen lässt.

Lina – Raül Refree
dito
Glitterbeat

Fado 3.0 also, der in „Medo“ direkt mit düsteren Synthesizerflächen unter dem Gesang beginnt, und bei Zartbesaiteten evtl. ein mulmiges Gefühl erzeugt. Das setzt sich fort, wenn „Fliegeralarmsirenen“ die Dramatik erhöhen („Quando eu era pequenina“), kreischende Sounds eine Gänsehaut erzeugen („Destino“), allerdings mit der Zeit in diesem Titel auch nervig werden, oder wenn bedrohliche elektronische Klänge die Eindringlichkeit des Gesangs untermauern („Os meus olhos são dois círios“). Minimalistische Töne, wie in der Ambient-Music von Brian Eno, treffen auf die exzellente Fado-Stimme von Lina. Die „Nuancen des Kummers“ werden so noch deutlicher hörbar als bei Superstar Amália Rodrigues, aus deren Repertoire elf der zwölf Titel stammen.

Manchmal erklingen verspielte Töne des Moog-Synthesizers, aber meistens bleiben die Stücke fast nackt, auf den Gesang reduziert, aber wunderschön, wenn, wie in „Maldição“, es im Klangbett im Hintergrund knarzt und knirscht. Erstaunlich, v.a. wenn man die Versionen von Amália im direkten Wechsel mit den Neuinterpretationen hört. Nur beim kurzen „Voz Amália de nós“ geht es anders herum: aus einem 80er-Jahre Synthiesong haben die beiden klanglich einen Fado gemacht.


Die kubanische Geigerin und Sängerin Yilian Cañizares beginnt ihr Album mit einer nachdenklichen Ballade, die allerdings gegen Ende durch eine elektrische Gitarre lärmiger wird, im positiven Sinn. Cañizares möchte mit „Erzulie“ das afrikanische Erbe der Karibik hörbar machen und hat darum Musiker aus Kuba, Haiti, New Orleans und Mozambique eingeladen. Im funk-rockigen Titel „Contradicciones“ hört man davon zunächst wenig, hier erklingt v.a. eine schöne, wilde Fidelei, die den großen Einfluss des französischen Jazzgeigers Stéphane Grappelli auf ihr Spiel zeigt, den sie nach ihrem Umzug nach Europa für sich entdeckte.

Yilian Cañizares
Erzulie
Absilone/ galileo mc

Viele ihrer Kompositionen, die eine Jazz-Instrumentierung mit ritueller Yoruba-Perkussion vermischen, drehen sich um karibische Themen wie z.B. Götter – „Yemayá“ (Kuba), entlaufene Sklaven („Cimarrón“) oder Geisterwesen „Erzulie“ (Haiti; auch die Schutzpatronin von New Orleans). Letzterer baut sich vom Flüstergesang zu lauten, beschwörenden Gesängen auf, unterlegt mit elektronischen Klängen und Percussion, so dass tatsächlich Erinnerungen an Voodoo-Zeremonien aufscheinen; in „Cimarrón“ verdeutlicht die klassisch ausgebildete Musikern durch den Einsatz von schneller Percussion, E-Gitarre, Geige und Scatgesang das hektische Dasein eines ewig auf der Flucht befindlichen Sklaven, während in „Libertad“ der spanisch/englische Sprechgesang – über Toleranz, Vielfalt, Freiheit – gepaart mit Funkgitarre und Hammondorgel stimmlich an ihre Kollegin Addys Mercedes erinnert.

https://www.yiliancanizares.com/

https://www.fip.fr/musiques-du-monde/yilian-canizares-celebre-haiti-et-la-creolite-sur-l-album-erzulie-17166