Lebensmittelpakete für das gelobte Land

Covid-19-Pandemie: NGOs unterstützen Favelabewohner. Währenddessen setzt die Polizei ihre tödlichen Interventionen in den Armenvierteln fort.

Wer in die oben am Hang gelegene Terra Prometia, zu deutsch Gelobtes Land – Teil der Favela Vila Cruzeiro – will, muss einer staubigen Erdstraße den Hügel hoch folgen, mitten durch einen Steinbruch, dann soweit hinauf, bis auch der beladene Pickup scheitert. Hier werden die NGO-Pakete abgeladen und auf den Schultern weiter den Hügel hoch geschleppt.

Der Blick vom „Gelobten Land“ hinab auf die Stadt ist spektakulär. Vor dem Auge breiten sich schier endlosen Hütten der Vila Cruzeiro aus. Am Horizont sieht man Rio de Janeiros internationalen Flughafen, gelegen in der Guanabara-Bucht. „Terra Prometida“ besteht aus einer Handvoll aus Brettern gezimmerter Hütten auf der Spitze des Hügels.

Hier oben gibt es kein fließendes Wasser, keine Abwasserkanäle, keinen Strom. Lediglich ein Dutzend Familien, meist allein erziehende Mütter mit ihren auf den Wiesen spielenden Kindern. Den freiwilligen Helfern vom Central Única das Favelas (Cufa) kommen sie neugierig entgegen. Man wolle den Menschen auf dem Hügel helfen, sich weiterhin vom Rest der Favela Vila Cruzeiro zu isolieren, sagt Eduardo, der einen rund 20 Kilogramm schweren Plastiksack voll Zucker, Mehl, Reis, Bohnen und anderen Lebensmitteln schultert.

Covid-19: Lebensmittelpakete für Terra Prometia, Favela Vila Cruzeiro

„So gut es geht“ halten die Bewohner Abstand zu den weiter unten liegenden Teilen der Favela, was bedeutet, auch nicht in den Geschäften dort einzukaufen. Nur mit Maske gehe sie dort runter, sagt eine der Frauen von „Terra Prometida“, da sei sie streng mit sich, sagt sie – ohne gerade eine Maske zu tragen. Und auch die umherspringenden Kinder haben weder Masken auf noch wahren sie Abstand. Die Helfer von Cufa haben ihre Mühe, heran eilende Kinder und ihre Mütter auf Distanz zu halten.

„Wir gehen von Haus zu Haus, nehmen die Daten von jedem auf“, sagt die Ehrenamtliche Carla. „Bleibt im Haus und wartet, bis wir mit den Paketen kommen.“ Die Lebensmittelpakete bestehen, neben dem erwähnten rund 20 Kilo schweren Sack mit Grundnahrungsmitteln, aus einem 10-Kilo-Sack mit Obst und Gemüse, einem 10-Kilo-Sack mit Putz- und Reinigungsmitteln und einem Dutzend Eiern. Rund zwei Wochen kommt eine Familie im Durchschnitt damit aus. Weder die Stadtverwaltung noch die Landesregierung habe sich je hier blicken lassen, um zu helfen, sagen die Frauen von „Terra Prometida“.

Die Isolierung auf dem Hügel ist nicht ganz freiwillig. „Seit Beginn der Pandemie will mein Arbeitgeber nicht, dass ich zur Arbeit komme“, berichtet Renata, die junge Mutter von zwei kleinen Kindern, die sie sonst durch Putzen in einer Mittelklassefamilie ernährt. Er habe Angst vor einer Ansteckung. Genau wie sie selber auch, besonders weil sie zwei kleine Kinder hat, sagt sie. Aber auch sie trägt keine Maske, die Kinder laufen mit den Nachbarskindern über die Wiesen. Trotzdem versichern die Frauen, dass es bisher keinen Corona-Fall in „Terra Prometida“ gegeben habe, alle seien gesund.

Covid-19: Lebensmittelpakete für Terra Prometia, Favela Vila Cruzeiro

Anders sehe es bei ihm daheim aus, berichtet der freiwillige Helfer Eduardo. Er kommt aus einer Favela in der Baixada Fluminense. „Dort gibt es leider sehr viele Fälle von Coronavirus, viele Leute haben wir verloren.“ Weder hätten die Bewohner dort freiwillig Massnahmen der sozialen Isolierung durchgeführt, noch hätten die Behörden auf die Pandemie reagiert. Die Geschäfte seien alle geöffnet, wenige Leute benutzten Masken, so Eduardo. „Dutzende Freund haben wir da verloren. Denn dort ist ein Teil der Stadt, der vergessen wurde von den Behörden.“

Das Coronavirus erreichte Rio de Janeiro vermutlich durch brasilianische Touristen, die aus Europa heimkehrten. Und infiziert waren. Rasch füllten sich die privaten Krankenhäuser in den Nobelvierteln. Das erste Todesopfer war jedoch eine 63-jährige Hausangestellte, die am 19. März verstarb. Angesteckt hatte sie sich bei ihrer Arbeitgeberin, die kurz zuvor aus Italien zurückgekehrt war.

Mittlerweile hat sich das Virus über die rund eintausend Favelas des Großraums ausgebreitet. Die öffentlichen Krankenhäuser des SUS stehen vor dem Kollaps. An soziale Isolierung, wie sie in die Mittel- und Oberschicht in ihren geräumigen Apartments durchführen kann, ist in den engen Armenvierteln derweil kaum zu denken.

„Während sich die „Gesellschaft“ im Home Office und in Quarantäne befindet, arbeitet die Favela“, kommentiert Celso Athayde, Gründer des Cufa. „Die Leute der Favela sind unterwegs, setzen sich allen Risiken aus, denn sie arbeiten an der Tankstelle, die nicht schließen darf, damit das Land nicht stillsteht. Sie kochen und liefern Pizza und Essen per iFood aus, für all die, die daheim isoliert sind. Die Favela ist präsent im Supermarkt an der Kasse, im Lager, dort wo sie sich den Risiken aussetzt.“

Covid-19: NGO liefert Lebensmittelpakete für die Terra Prometia, Favela Vila Cruzeiro

Da es die Favelabewohner sind, die die essentiellen Aktivitäten in der Stadt aufrecht erhalten, hätten sie eigentlich eine zusätzliche Unterstützung der Behörden verdient, glaubt Athayde. „Die Favela ist nicht nach Europa gereist und hat sich dort nicht angesteckt. Die Favela wurde hier in Brasilien angesteckt, und schleppt es jetzt in die Favelas. Und auf ihren Schultern liegt die Last, damit das Land jetzt nicht zum Stillstand kommt.“

In kürzester Zeit hat Athayde über die regionalen Cufas landesweite Hilfsaktionen anlaufen lassen. Zudem konnte er rund 160 Unternehmen gewinnen, die entweder Geld oder Lebensmittel spenden. Eine Bank beispielsweise finanziert ein Programm, das alleinerziehenden Müttern monatliche Schecks von 120 R$ zukommen lässt. Mehreren tausend Müttern soll so geholfen werden, die Krise zu überstehen. Daran, dass die Behörden sich in Zukunft beteiligen werden, glaubt er allerdings nicht mehr.

„Die Zusammenarbeit mit der Regierung bzw. den kommunalen Behörden ist meist schwierig aufgrund ihrer aufgeblähten bürokratischen Strukturen. Selbst wenn sie uns Lebensmittel spenden wollten, würde das alles viel zu lange dauern. So lange können die Leute nicht warten. Deshalb ziehen wir es vor, denjenigen, die eigentlich in den staatlichen Sozialprogrammen sein müssten, es aber nicht sind, die entsprechenden Hilfsgüter direkt zu liefern.“

Die wirtschaftliche Lage vieler Favelabewohner war schon vor Corona nicht rosig. Mehr als die Hälfte der rund 13 Millionen Favelabewohner Brasiliens verzeichnet nun aufgrund der Pandemie Einbußen von über 50 Prozent ihres ohnehin kargen Einkommens, berichten Medien. Einen Teil konnte Cufa auffangen. Bis Mitte Mai hat Athayde Lebensmittelpakete im Wert von rund 100 Millionen Reais gesammelt und landesweit unter den Favelabewohnern verteilt. Dazu kommen noch einmal über 7.000 Tonnen an Lebensmittelpaketen für das Projekt „Mães da favela“ und tausende von Gasflaschen zum Kochen – ein essentieller Bestandteil des Lebens in den Favelas.

Sein Ziel, dass die meisten Menschen durch die Hilfslieferungen dazu gebracht würden, daheim zu bleiben, habe er aber nicht erreicht, gesteht Athayde ein. Die Not treibe viele Favelabewohner dazu, weiter ihrer Arbeit nachzugehen. Aber man habe sicherlich dazu beigetragen, dass die Covid-19-Zahlen in den Favelas nicht so fürchterlich ausfallen wie zu Beginn der Pandemie befürchtet.

Nicht ausgeblieben sind jedoch die Todesfälle durch Polizeieinsätze in den Favelas.

So nahm die Zahl der von der Polizei getöteten Personen während der Pandemie zu. Im April, als ein Großteil der Bevölkerung bereits in Quarantäne verweilte, wurden 177 Personen im Staat Rio de Janeiro von der dortigen Polizei getötet, rund 43 Prozent mehr als im April 2019.

Im Mai sorgte der Fall des 14-jährigen João Pedro für landesweites Entsetzen. Er wurde bei einem Einsatz in São Gonçalo von der Polizei in seinem Haus erschossen. Mehr als 70 Einschüsse wurden in den Wänden gezählt. Ebenfalls im Mai geriet ein 18-Jähriger in der Favela Cidade de Deus ins Kreuzfeuer zwischen Polizei und Drogendealern und wurde dabei getötet. Der Schusswechsel unterbrach eine Aktion der NGO „O Movimento Frente Cidade de Deus“, die gerade Lebensmittelpakete an die Bewohner verteilte.

Am Freitag, den 6. Juni, untersagte der Oberste Richter Edson Fachin schließlich jedwede Polizeiaktion in den Favelas von Rio de Janeiro bis zum Ende der Pandemie. Einsätze sind nur mit einer ausdrücklichen Genehmigung der zuständigen Staatsanwaltschaft und in Ausnahmefällen erlaubt. So gibt es immerhin die vage Hoffnung auf ein wenig Frieden in den Favelas.

Linderung haben auch die von der Zentralregierung in Brasília ausgelobten Corona-Hilfszahlungen von 600 Reais für drei Monate gebracht. Zweidrittel aller Favelabewohner im Land haben Gelder beantragt, fast vierzig Prozent von ihnen seien jedoch abgelehnt worden, berichten Medien. In „Terra Prometida“ haben die meisten Mütter jedoch die finanzielle Unterstützung erhalten.

Aber ein großer Trost sei das nicht, sagt Adriana, die mit ihren vier Kindern ein wenig unterhalb von „Terra Prometida“ in der Vila Cruzeiro lebt. Sie und viele ihrer Nachbarn waren zwei Wochen lang krank. Durchfall, Fieber, „wir waren richtig fertig“, erzählt sie. Das Coronavirus war es wohl nicht, vermutet sie, aber „uns ging es allen schlecht. Viele Leute hier hatten diese Grippe“. Ob sie ins Krankenhaus gegangen sei?

„Ah nein, wir sind da nicht hin. Denn zum einen grassiert da ja diese furchtbare Epidemie. Und außerdem würde man uns sowieso nicht behandeln. Der Gesundheitsposten nimmt Fälle wie uns nicht mehr auf.“

Aufgrund der Pandemie sei die Behandlung vieler anderer Krankheiten ausgesetzt worden, berichtet Adriana. „Man hat uns komplett im Stich gelassen. Ehrlich – alle haben uns im Stich gelassen…“ Was sie denn von Präsident Jair Bolsonaros Sprüchen halte, dass das Virus nicht so schlimm sei? „Ah, der sagt das nur, weil es ja nicht um ihn geht. Ihm ist das alles egal. Er kümmert sich nur um seine Macht und sein Geld. Für das arme Volk hat er gar nichts übrig.“

Die Leute würden derzeit komplett im Stich gelassen, sagt Adriana. Klar, auch vor der Pandemie seien viele Bewohner der Vila Cruzeiro schon arbeitslos gewesen. Doch jetzt sei es noch einmal schlimmer geworden. „Dabei ist Brasilien doch das reichste Land der Welt. Es wäre nicht nötig, dass das Volk dies alles durchmachen muss. Wir sind jetzt auf diese Lebensmittelpakete angewiesen. Ohne die müssten wir Hunger leiden“.