Barocker Expressionismus in einem Rahmen aus geflochtenem Stein

Das nationale Skulpturen-Museum Spaniens in Valladolid

Selbst wenn man sich nicht brennend für sakrale Skulpturen von Gotik bis Spätbarock interessieren sollte: das Museumsgebäude allein lohnt schon einen Besuch in Valladolid. Die nach Madrid größte Stadt Kastiliens ist im Vergleich zu Burgos, León oder gar Salamanca nicht unbedingt eine Schönheit zu nennen. Aber der Baukomplex, in dem hier 1842 Spaniens nationales Skulpturen-Museum untergebracht wurde, ist das spektakulärste Beispiel des plateresken Stils („estilo plateresco“), jener spanischen Sonderform zwischen Spätgotik und Renaissance. So machte man das 1488 – 1498 vom genialen Architekten Juan Guas mit Unterstützung von Simón de Colonia und Gil de Siloe konstruierte Colegio de San Gregorio zu einem der schönsten Museumsbauten der Welt. Denn es gibt nur wenige Museen, die eine solche Prunkfassade zu bieten haben und der Patio ist vielleicht die schönste und genialste Innenhof-Konstruktion der Welt.

In der Tat muss man, bevor man dieses Museum betritt, zunächst einige Minuten staunend vor der verschnörkelten Hauptfassade stehen bleiben. Wie einen riesiger Hochaltar, in dem christliche und heidnische Motive wild durcheinander wirbeln, hat der Architekt und Bildhauer Gil de Siloe (1440 – 1501) dieses Pracht-Portal konzipiert und wahrscheinlich (mit Gehilfen aus seiner Werkstatt) auch alle Reliefs und Skulpturen gemeißelt. Im Zentrum der Fassade rankt sich ein steinerner Granatapfelbaum empor – seine Frucht symbolisiert das Blut Christi, während der ganze Baum ein Symbol für den Paradiesgarten ist. In den wild verzweigten Ästen turnen Dutzende kleiner Englein, als wäre der Baum ein himmlisches Klettergerüst.

Zugleich ist der Granatapfel aber auch die Wappen-Frucht des maurischen Königreichs Granada, das 1492 von den Katholischen Königen erobert worden war. Das Portal ist also auch ein Zeichen, das an diesen Sieg erinnert und damit wollte der Stifter dieser Hochschule, Alonso de Burgos, Dominikanermönch und Bischof von Palencia, sich wohl auch ein wenig bei den damaligen Majestäten anbiedern.

Links und rechts vom zentralen Granatapfelbaum halten jeweils zwei Engel das Lilienbanner des Bischofs. Denn wer so viel Geld locker macht (nach heutiger Zählung wohl Millionen), um diesen grandiosen Gebäudekomplex für die Bildung zu errichten, möchte ungern vergessen werden. Aber über seine Majestäten durfte er sich natürlich nicht stellen. Deshalb wird der paradiesische Granatapfelbaum gekrönt vom Wappen der Reyes Católicos mit Burg und Löwe, das von einem Adler und zwei sehr dynamischen Löwen präsentiert wird. Der geniale Künstler Gil de Siloe stammte wahrscheinlich aus Flandern (Antwerpen?), war möglicherweise als Pilger über den Jakobsweg nach Spanien gekommen und machte Burgos zu seiner Heimatstadt. Er wurde dort zu einem der wichtigsten Bildhauer und Architekten des plateresken Stils und war schon zu Lebzeiten berühmt.

Der wohl wichtigste Architekt in jener ersten Phase von Spaniens Goldenem Zeitalter war Juan Guas (Jean Goas, 1430 – 1496) und mit seinem Kollegen Gil de Siloe verband in die ferne Herkunft. Auch er war kein Spanier, sondern stammte aus der Bretagne. Der von ihm entworfene Patio zieht dann alle Register des estilo plateresco. Nicht wenige Besucher lassen hier mit offenen Mündern ihre Blicke empor wandern und ihrer Begeisterung freien Lauf. Elegant gedrehte Säulen, Gesimse wie aus geflochtenem Stein, filigran wie Spitzengardinen wirken die Steingitter der Galerie und erinnern damit auch an die Fenstergitter islamischer Paläste wie der Alhambra. Alles in diesem Patio, vom kleinsten Detail bis zum harmonischen Gesamteindruck, ist großes Kino.
Die Architektur dieses Bauwerks, das zu den zehn wichtigsten Monumenten Spaniens gehört, ist so grandios, dass man fast fürchten muss, der Inhalt des Museums könnte damit kaum mithalten. Diese Furcht ist aber unbegründet.

Denn das nationale Skulpturen-Museum beherbergt fast 1200 Gemälde und über 1500 Skulpturen und Reliefs und bietet eine repräsentative Zeitreise vorbei an Höhepunkten spanischer Bildhauerkunst. Dabei liegt der Fokus eindeutig auf sakraler Kunst des Siglo de Oro (ca. 1500 – ca. 1750). Es sind vor allem drei Meister kastilischer Bildhauerkunst, die hier im Mittelpunkt stehen: Alonso Berruguete, Juan de Juni und Gregorio Fernández.

Vom ersten bis dritten Saal des Museums dominiert die bahnbrechende Kunst von Spaniens wohl größtem Renaissance-Bildhauer: Alonso Berruguete (1490 – 1561) aus Toledo. Er hatte viel Zeit in Italien verbracht und dort nicht nur antike Vorbilder wie die Laokoon-Gruppe, sondern auch die Werke Donatellos und Michelangelos studiert. Wie bei allen großen spanischen Bildhauern zeichnet sich sein Stil durch detailgetreuen Realismus aus und ist zudem geprägt durch besondere Dynamik in der Form. Wo vor ihm Altarszenen ikonenhaft und statisch wirkten, gibt es bei ihm flatternde Gewänder und wild zerzauste Haarmähnen, Heilige mit Körpern in Bewegung und Gesichtern zu sehen, die rufen oder schreien vor Schmerz oder lächeln vor Glück.

Sein größtes hier präsentiertes Werk ist der komplette Hochaltar des Klosters San Benito und das vielleicht beeindruckendste ist sein heiliger Sebastian (1526), dessen junger Körper am Marterpfahl sich bizarr verrenkt vor Schmerzen, mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck zwischen Leid und mystischer Ekstase. Berruguete präsentiert uns den Heiligen als menschliches Folteropfer, doch zugleich als Auserwählten Gottes, der für seinen Glauben übermenschlichen Schmerz ertragen kann.

Eines der Mega-Kunstwerke, vielleicht der absolute Höhepunkt in diesem Museum, ist eine monumentale Skulpturengruppe aus der Hand eines französischen Bildhauers, der allerdings in Frankreich kaum bekannt ist, da fast sein gesamtes Leben und seine Kunst in Spanien zu verorten sind. Juan de Juni (1506 – 1577), dessen eigentlicher Name wohl Jean de Joigny war, kam ursprünglich aus Burgund und schaffte schnell den künstlerischen Durchbruch in Kastilien. Auch er hatte wie Berruguete zuvor einige Zeit in Italien verbracht, bevor er sich hier in Valladolid niederließ, wo damals der Königshof residierte.

Die monumentale Dramatik der Skulpturengruppe seiner Grablegung Christi von 1540 trifft den unvorbereiteten Besucher mit voller Wucht. Der Blick irrt zwischen den Figuren dieser ergreifenden Szene hin und her und man weiß nicht, wem man sich zuerst zuwenden soll. Am liebsten würde man jede einzelne Figur, die an diesem Begräbnis teilnimmt, in den Arm nehmen und trösten. Das Gesicht des Josef von Arimathia ist verzerrt zu einer expressionistischen Fratze der Trauer. Mit vorwurfsvollem, anklagenden Blick hält er dem Betrachter den spitzen Nagel unter die Nase, mit dem Christus ans Kreuz geschlagen wurde.

Daneben, im Zentrum der Szene, streckt Maria als Schmerzensmutter mit tränenüberströmtem Gesicht den Besuchern verzweifelt ihre Hände entgegen und Johannes, der Lieblingsjünger, versucht, sie zu stützen. Aber sein leerer, trostloser Blick sucht selbst Halt in der Verzweiflung. Dieses sakrale Theater der Grablegung soll einen emotionalen Schock auslösen und alle, die diese Szene betrachten, zu Tränen rühren. Juan de Juni will mit diesen wild vor Schmerz gestikulierenden Figuren der Maria, der Magdalena oder des Johannes dem Volk vermitteln: hier leidet einer von uns!

Doch es geht noch heftiger! Dieses Museum ist schließlich kein Ort zum Ausruhen und Zurücklehnen, man fühlt sich eher wie beim Staccato von Schlägen eines Boxers gegen einen Sandsack: pausenlos wird der Blick bombardiert mit Schlägen in die Magengrube und Druck auf die Tränendrüsen, am Ende wird man sich ziemlich erschöpft fühlen, und doch großartig.
Denn nun wird man attackiert von der in vielerlei Hinsicht extremen und kompromisslosen Kunst des Gregorio Fernández (1576 – 1636) und die mutet den Besuchern einiges zu. Kastiliens Barock-Meister aus Valladolid treibt den Hyperrealismus auf die Spitze. Bei ihm scheint das Holz wirklich zu Haut zu werden, aber um noch mehr Realitätsnähe zu erreichen, verwendet er auch andere Materialien. Die Zähne meißelte er aus Elfenbein, Fingernägel fertigte er aus Horn, die Augen aus Kristall und Tränen aus Harz und zur Darstellung der Wunden Christi füllte er rot gefärbten Kork in die entsprechenden Stellen.

Von seinen vielen hier versammelten Werken sind vor allem zwei zutiefst beeindruckend: die Pietà der „Sexta Angustia“ (Sechste Todesangst der Maria) und der makaber realistische Leichnam eines toten Christus – die „Spezialität“ von Fernández.

Im Zentrum der Szene der „Sechsten Todesangst“ kauert Maria mit blauem Mantel am Boden, richtet die rechte Hand und den flehenden Blick Hilfe suchend Richtung Himmel, während ihre linke Hand sich um den bleichen Leichnam ihres Sohnes klammert, als wollte sie ihn nie mehr los lassen.

Der Dieb, der links von Jesus gekreuzigt wurde, wirkt mit seiner schreienden Fratze und dem bizarren Blick wie eine Verkörperung des abgrundtief Bösen und ist ein Meisterwerk des barocken Expressionismus. Dasselbe gilt für den blutüberströmten Leichnam des toten Christus im nächsten Saal. Hier hat Gregorio Fernández alle verfügbaren Tricks angewendet, um einen täuschend echt wirkenden toten Körper zu präsentieren: die erstarrte Haltung, der halb geöffnete Mund mit den Elfenbein-Zähnen, die erloschenen Augen aus glanzlosem Kristall, die Kork-Wunden an Füßen, Händen und Knien und die bleich lackierte Haut. Diese besonders drastische Darstellung ist typisch für die kastilische Richtung des spanischen Barock, der im Gegensatz zum Barock in Andalusien eher erschüttern als erfreuen wollte und auch vor Hässlichkeit nicht zurück schreckte. Selten gelang dies so effektvoll wie hier.

Doch auch der andalusische Barock ist hier in Valladolid vertreten. Von Spaniens größtem Bildhauer, Juan Martínez Montanés aus Sevilla, gibt es allerdings nur einen mittelmäßigen Johannes zu sehen. Aber seine Sevillaner Kollegen Juan de Mesa und Pedro Roldán sind hier ebenso mit Meisterwerken vertreten wie vor allem die Bildhauer aus Granada:

Pedro de Mena (1628 – 1688) mit seiner elegant tragischen Magdalena, die in mystischer Ekstase das Kreuz betrachtet, und Alonso Cano (1601 – 1667) mit seinem jugendlich adretten Johannes dem Täufer.

Den Höhepunkt im letzten Saal des Museums setzt jedoch wieder ein kastilischer Bildhauer: Luis Salvador Carmona (1708 – 1767), mit seiner bezaubernden „Santa María Egipciaca“, die mit traumversunkenem Blick einen Totenschädel anstarrt – als wollte sie sich in der Blüte ihrer Jugend stets ihrer eigenen Vergänglichkeit vergewissern. Mit diesem Gedanken wird auch der Besucher, egal ob jung oder alt, in diesem einzigartigen Museum ständig konfrontiert.

Wenn man die Treppe hinab steigt und dann durch den prunkvollen Patio das Gebäude verlässt, fühlt man sich in Trance, völlig erschöpft von all der theatralisch gestikulierenden Trauer, den Strömen von Blut und Tränen. Und die Gier nach Leben, der Hunger meldet sich zurück – irgendwie hat man ganz plötzlich Appetit auf gebratene Blutwurst.

Öffnungszeiten: Dienstags bis Samstags: von 10:00 bis 14:00 und von 16:00 bis 19.30 Uhr. Sonntags und Feiertags: 10:00 bis 14:00 Uhr. (Montags geschlossen)
Eintritt: 3 Euro
Adresse: Museo Nacional de Escultura C/ Cadenas de San Gregorio – 47011 Valladolid (España) Telefon.: 00 34 983 250 375
Website: http://www.culturaydeporte.gob.es/mnescultura/museodigital/visita-virtual/tour-virtual.html