Flamenco, Jazz und Raga (03/2013)

Das „Volk mit den tausend Namen“ wird erstmals im Jahr 1320 auf der Balkanhalbinsel dokumentiert, über Umwege aus Indien bzw. dem heutigen Pakistan kommend. Von dort zogen die Roma (abgeleitet vom sedschukischen Sultanat Rum) oder Cigani / Zigeuner etc. (aus dem Griechischen Wort „atsinganoi“) oder Gypsies (abgeleitet von „Ägypter“) auch nach Westeuropa weiter. In Spanien nennen sich die gitanos selbst calé. Verschiedene Theorien vermuten, dass die Roma (eine Sammelbezeichnung, auf die man sich im 20.Jahrhundert einigte) schon früher (um 1018) aus Indien kamen, als Sklaven verschiedener Heere.

Das Wissen um diese Wurzeln ging jedoch verloren und wurde erst wiederentdeckt, als die Gemeinsamkeiten ihrer Sprache Romanés mit dem altindischen Sanskrit entdeckt und erforscht wurden. Überall dort, wo sie hinkamen, brachten sie ihre Erzähl- und Musikkultur mit. So stammen wohl viele, auch deutsche Märchen, ursprünglich aus dieser Quelle. Musikalisch beeinflussten die Roma Kulturen einiger Zielländer (z.B. Frankreich, Spanien, Rumänien, Ungarn). Vor allem der Swing-Manouche (Django Reinhardt) und der Flamenco (Manitas de Plata, Camarón de la Isla etc.) sind hier zu nennen. Letzterer weist auch im Tanz Gemeinsamkeiten zu indischen Schrittfolgen auf.

Sinti und Roma hören
Hörbuch
Silberfuchs Verlag, 2011

Schon von Beginn an wurden die Roma diskriminiert und verfolgt, was sich in Geschichten und Musik widerspiegelt, die das sehr gelungene Hörbuch „Sinti und Roma hören“ in großer Zahl präsentiert. So wurden sie im 15. Jahrhundert durch Reichstage in Deutschland als „Spione der Osmanen“ für vogelfrei erklärt und verfolgt, von Portugal aus nach Brasilien verschleppt oder in Österreich zwangsassimiliert. Den Höhepunkt stellte die Tötung von ca. 500.000 Roma durch die Nazis dar. Erst nach dem II. Weltkrieg begannen die Roma sich zu emanzipieren und gründeten Institutionen (Roma-Weltkongress 1971 etc.) und entwarfen gemeinsame Symbole (Hymne und Fahne).

Dotschy Reinhardt, Spross der gleichnamigen Jazzmusiker-Dynastie, neigt zur Theorie, dass die Sinti (Bezeichnung einiger europäischer Roma) aus der Region Sindh im heutigen Pakistan stammen, die ihren Namen vom Fluss Sindhu hat, uns besser bekannt als Indus. Ihn wählte die Sängerin als Metapher für ihre letzte CD („Pani Sindhu“), auf der sie fast alle Songs selbst geschrieben hat: in Romanés. Sie handeln von der Wanderung ihres Volkes, der alltäglichen Vertreibung der Sinti, von unglücklicher Liebe, Trennung und von ihren Eltern.

Dotschy Reinhardt
Pani Sindhu
Galileo Music

Musikalisch reist sie zu den Wurzeln ihres Volkes nach Indien, kombiniert mit ihren Musikern sehr gekonnt Tabla und Sitar mit Jazz. Mal überwiegt der Jazz, z.B. in „Panch bar“, einem Lied über Kinder und ihr Murmelspiel, mal indische Klänge. Mit ihren Versionen von „Qué alegría“ und „Prabhujee“ verneigt sie sich vor Musikern, die die „Weltmusik“ und den Jazz zusammengeführt haben und klanglich gut zu ihr passen: John McLaughlin und der kürzlich verstorbene Ravi Shankar. Im einzig englischsprachigen Titel des Albums, „Walkabout“ von John Barry, wird einmal mehr der Heimatverlust ihres Volkes thematisiert.

Dotschy Reinhardt
Gypsy – die Geschichte einer großen Sinti – Familie
Scherz / Fischer, 2008

Aber Dotschy Reinhardt beschäftigt sich nicht nur musikalisch mit der Geschichte der Roma, sie hat mit „Gypsy“ die Geschichte ihres Volkes und ihrer Familie auch zu Papier gebracht.

Anoushka Shankar, die Tochter des indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar, verfolgt auf ihrem Album „Traveller“ den Weg des Flamenco von Spanien zurück nach Indien. „Sie spielt auf ihrer Sitar den Flamenco so wie die großen Gitarristen“, sagen ihre Kollegen. Allerdings handelt es sich gar nicht um Flamenco, sondern um indische Musik, die, wie man heute weiß, die Wurzeln des Flamenco bilden. Wenn dann noch Gitarre, palmas und ein cajon erklingen, hört man – abgesehen vom typischen Sitarklang – keinen Unterschied mehr zum traditionellen Flamenco.

Anoushka Shankar
Traveller
Deutsche Grammophon / Universal

Neben Anoushka hat der Gitarrist und Produzent des Albums, Javier Limón, ganze Arbeit geleistet, um die natürliche Verschmelzung von Flamenco und indischer Musik zur klanglichen Perfektion zu treiben. „Bulería con Ricardo“, ein treibender Titel in der sich Piano – das ja auch schon länger als Instrument im Flamenco angekommen ist – und Sitar genial ergänzen, oder „Boy meets girl“, in dem der Flamencogitarrist Pepe Habichuela und Anoushka Shankar die Kombination eines spanischen cante und eines indischen Raga spielen, ohne dabei skalentechnisch das jeweilige Genre zu verlassen, beweisen die Verwandtschaft dieser Musiken auf das Schönste. Gastmusiker wie der Percussionist Piraña, der unvergleichliche Sänger Duquende oder Concha Buika, mit ihrer Reibeisenstimme, untermauern das indische Erbe der „Gitano-Musik“ einmal mehr.

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