Die Männer von Marambio

Im Nirgendwo auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans. Mit großer Spannung erwarte ich im Halbdunkel des Flugzeugrumpfes die Morgendämmerung. Die ersten Sonnenstrahlen erhellen allmählich den Horizont. Die Gangway der Herkules C-130 wird heruntergefahren. Licht, das von dem glitzernden Schnee der Antarktis reflektiert wird, blendet mich. Beim Ausstieg wirft die aufsteigende Sonne Schatten unserer Körper auf die Flugzeugwand, und der ohrenbetäubende Lärm der Turbinen durchdringt die Stille. Orange farbene Wesen strecken mir ihre Hände entgegen. Die Antarktis heißt mich Willkommen.

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Je weiter ich mich vom Flugzeug entferne, desto mehr nimmt die Stille zu, und eine unglaublich reine Luft strömt durch meine Lungen. So frisch, wie man sie in den Städten niemals antrifft. Um mich herum ist alles in Bewegung; mit Routine und großer Geschwindigkeit beladen und entladen die Männer in Orange das Flugzeug. Der überfrorene Schnee knirscht bei jedem meiner Schritte. Mittlerweile ist es heller Tag geworden und außerhalb meines arktischen Schutzanzugs herrschen fünf Grad Celsius unter Null.

Neben der Landebahn führt ein über den Schnee gebauter Laufsteg zu den Wohnmodulen des argentinischen Luftwaffenstützpunktes Marambio. Zehn Gebäude und eine Ansammlung von Stahlantennen, alle orangefarben, trennen das Meer und den Himmel. Die Wohnmodule sind aus Plastikfasern und metallenen Rippen gebaut, sie erinnern an rote Insekten.

Die Bewohner der Antarktis bezeichnen ihre Schneestürme als „Mufa” – ein wütendes Wolkenmeer, das seine schlechte Laune an den Bewohnern des eisigen Kontinents mit Windgeschwindigkeiten um die 150 Stundenkilometern und Temperaturen von 60 Grad minus und kälter auslässt. Wenn die „Mufa“ herrscht, ist die Sicht auf unter einen Meter beschränkt, eine Orientierung ist vollkommen unmöglich, und ungeschützte Körperteile erfrieren sofort.

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Marambio ist das Tor zur Antarktis. Gleichzeitig dient es auch als Brücke zu den anderen argentinischen Stützpunkten auf dem sechsten Kontinent. 36 Männer, sowohl mit zivilen als auch mit militärischen Aufgaben betraut, garantieren durch ihre tägliche Arbeit den Erhalt des Stützpunktes und der Landebahn. Außerdem unterstützen sie die Arbeit der wissenschaftlichen Stationen, fliegen Rettungseinsätze, verrichten logistische Arbeiten und befördern sowohl Arbeiter als auch Fracht zu anderen Stützpunkten.

Alle Männer verpflichten sich, für den Zeitraum eines Jahres dort zu arbeiten. Der technische Fortschritt erlaubt es ihnen, in täglichem Kontakt zu ihren Familien und Freunden zu stehen – sei es durch das Internet oder per Mobiltelefon. Selbst die Nachrichten und Unterhaltungssendungen können sie durch eine Satellitenverbindung verfolgen. Diese Neuerungen haben die Bedingungen des langen und unendlich erscheinenden Aufenthaltes erheblich erleichtert. Ganz im Gegensatz zu den Anfängen, als die Stützpunktmitglieder noch gezwungen waren in Zelten zu leben und zu arbeiten.

Es herrscht Windstille. Ich unterhalte mich mit dem Meteorologen von Marambio, Alejandro Gómez, der mir erklärt, dass es für die Männer unmöglich ist, mental an zwei verschiedenen Orten gleichzeitig zu existieren: „Ich bin jetzt hier. Und ich kann nichts machen, wenn irgendetwas auf dem Kontinent passiert. Vor kurzem starb ein naher Verwandter, und ich musste das von hier aus verarbeiten, ohne dabei den Kopf hängen zu lassen. Meine Familie brauchte mich genauso wie meine Kollegen. Es ist für alle gleichermaßen schwierig”, schildert er mir seine Situation. „Hier ist jeder von seinem Nächsten abhängig, weil alles wie in einem Bienenstock funktioniert. Und neben all den Schwierigkeiten und Problemen musst du begreifen, dass sich die Welt weiter dreht. Du lernst zu teilen und in einem anderen Rhythmus zu leben.”

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Es wird mir klar, dass die Einigkeit und die Kameradschaft lebensnotwendige Charakterzüge dieser Männer mit dem ruhigen Ausdruck in den Augen sind. „Du bist von den anderen abhängig. Mit dieser Einsicht habe ich wieder begonnen, an die Macht der Natur zu glauben. Und ich habe begriffen, dass das Glück in den einfachen Dingen liegt”, beschreibt mir Alejandro seine Situation.

Deutlich erkenne ich in seinen Augen und in seiner ruhigen Sprache die innere Gelassenheit und Stärke, aber auch die natürliche Härte, die sowohl ihn als auch den Rest der Männer von Marambio ausmacht.

Mein Blick ruht auf der zugefrorenen See. Die scheinbar unbeweglichen Eisberge beschreiten geduldig ihren vorbestimmten Weg. Langsam senkt sich die Sonne und hinter der startbereiten Herkules, breitet sich die Stille des sechsten Kontinents aus.

Fotos: Rodrigo Vazquez