Barfuß durchs Unterholz

Km.0, Pinot Noir Roble, Gran Reserva, 2010, Bodega Familia Irurtia, Uruguay

Und er geht schon wieder durch den Wald. Nicht auf den ausgetretenen Pfaden. Die Äste versperren seinen Weg. Er singt Liebeslieder und denkt dabei an sie. Er geht tiefer in den Wald hinein, lässt sich nicht aufhalten. Es ist kalt und nass. Die Kälte kriecht unter seine Jacke, dann auch unter Pullover und Hose. Sie dringt tief in seinen Körper. Aber er kehrt nicht um, er geht weiter. Er geht barfuß.

Km.0, Pinot Noir Roble, Gran Reserva, 2010, Bodega Familia Irurtia
Km.0, Pinot Noir Roble, Gran Reserva, 2010, Bodega Familia Irurtia

Vierzehn Jahre ging er zusammen mit ihr. Die letzten beiden gemeinsam einsam. Den Platz an seiner Seite hielt er frei für sie, groß und schön und voller Hoffnung. Aber daraus wurde ein Loch, das alle Kraft aus ihm sog – und anstatt sich damit zu füllen und sich zu schließen noch größer wurde. Noch tiefer und schwärzer. Alles verschlingend.

Er geht tiefer in den Wald hinein. Das Geäst wächst dichter, das Holz am Boden wird feuchter und brüchiger. Fichtennadeln, Moos und Laub liegen darauf. Nass und schwer. Immer wieder rutscht er aus. Fast stürzt er. Fast. Im Fall gelingt es ihm gerade noch sich zu fangen. Zwei Lichter leuchten ihm. Warm und voller Leben. Sie sind immer bei ihm. Sie geben ihm Halt auf seinem Weg.

Er geht weiter. Es wird dunkler. Mit der Kälte kriecht auch Angst in seine Knochen. Seine Schritte werden schwerer. Je weniger er sehen kann, desto mehr nimmt er den Duft wahr, der aus dem weichen Waldboden aufsteigt. Warm und würzig. Die Angst weicht wieder aus ihm. Seine Arme und Beine werden leichter.

Der Duft in seiner Nase trägt ihn zurück in eine Zeit, als die Wärme üppig war und die Zweisamkeit voller Nähe. Nicht leicht, aber innig. Er versucht, sich an ihren Duft zu erinnern. Vergebens. Aber er weiß noch, dass ihr Geruch ihn manchmal einen ganzen Tag lang begleitete. Gerade wenn sie am Morgen beieinander gelegen hatten, witterte er ihn noch bis zum Abend, spürte, wie er seine Nase kitzelte und sog ihn immer wieder tief in sich hinein.

Aber der Geruch des modrigen Waldbodens erinnert ihn auch an einen Wein, den er erst am Abend zuvor getrunken hat. Einen Spätburgunder, auf dessen Etikett Pinot Noir steht, weil er aus einem anderen Land stammt. Einem kleinen stolzen Land am großen Río de la Plata. Uruguay. Familia Irurtia heißt das Weingut, das im Südwesten seine Rebflächen hat.

In einem tiefen Granatrot mit bräunlichen und ockerfarbenen Reflexen ist der Wein in sein Glas geflossen. Eine leichte Aufhellung am Rand, dezent und auch leicht ins Bräunliche changierend. Zehn Jahre ist dieser Wein alt.

Aber viel beeindruckender als seine Farbe war das Bukett, das er verströmt hat. Zuerst modrig wie der Waldboden. Doch je mehr er es in sich aufgenommen hat, desto intensiver nahm er eine subtile Pflaumen-Kirsch-Note wahr. Für einen Augenblick hat dieser Duft ihn sogar an Kaffee erinnert. Aber nur kurz, dann wandelte er sich in Tabak und Nougat mit einem subtilen Hauch von Nelken und Zimt.

Er geht weiter, noch tiefer in den Wald hinein. Seine Füße schmerzen. Die Baumkronen sind noch voller, die Blätter versperren seine Sicht zum Himmel. Der Boden wird wieder härter. Das Unterholz knackt unter seinen nackten Fußsohlen. Behutsam setzt er einen Schritt vor den anderen. Das Laub raschelt. Er macht eine Pause.

War es wirklich nur der Duft des Weins, der ihn so sehr fasziniert hat? Seine Erinnerung daran vermischt sich nun ganz mit dem Geruch des Laubs und des Gehölzes. Wie kann ein Wein nach Wald riechen? Wie kann der Boden eines Herbstwaldes das Aroma eines Spätburgunders verströmen?

Nein. Es war nicht nur das Bukett, das ihn so sehr angezogen hat. Es war auch der Geschmack. Kaum war die zehn Jahre alte Gran Reserva über seine Zunge und seinen Gaumen geflossen, faszinierte ihn ihre runde Ausgeglichenheit. Noten von Kirsche und Waldbeeren, sogar etwas Himbeere und Wacholder hatte er geschmeckt. Warme Holznoten und Kräuteraromen. All das eingebunden in einem schlanken, strukturierten und eleganten Körper, begleitet von feinen Tanninen und einer präsenten, aber gut integrierten Säure. Sie ließ den Wein trotz der Jahre noch frisch wirken. Groß und warm auch das Finale, ein fruchtig filigraner Nachhall, mächtig und dennoch leicht.

Er hält wieder kurz inne, geht dann noch langsamer. Jeder seiner Schritte ein Gedankengang. Er und sie – das hatte nie Ausgeglichenheit, sondern ein großes Gewicht auf ihrer Seite, keine Struktur, sondern den Imperativ eines Menschen, der mit den eigenen Wünschen die Beziehung dominieren will. Ohne Rücksicht auf andere Bedürfnisse, ohne Interesse am Leben des Gegenübers, an der Balance zwischen beiden Polen. Er und sie – das hatte nie Zukunft. Nur vierzehn Jahre lang den Traum, dass es sie geben würde. Dann der finale Faustschlag. Das Ende der Täuschung.

Er dreht sich um. Ohne zu wissen, was und wo genau sein Ziel ist, geht er zielstrebig in eine neue Richtung. Zwei Lichter leuchten ihm und geben ihm Halt. Der Weg entsteht unter seinen nackten Füßen.