Tanausú – König der Guanchen (06/2005)

In den Geschichtsbüchern, die sich dem Beginn der Neuzeit widmen, ist diese Episode aus dem Jahr 1492 nur eine Fußnote wert: eine winzige Notiz im Windschatten der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus. Die Eroberung der kleinen Kanareninsel Benahoare (später von den spanischen Eroberern La Palma genannt) ist das Thema des historischen Romans „Tanausú – König der Guanchen“ von Harald Braem, der 2003 vom Zech Verlag auf Teneriffa publiziert wurde.

Historischer Roman über La Palma
Harald Braem: Tanausú – König der Guanchen
Roman, Zech Verlag, Teneriffa 2003 (3. Aufl.), 288 S., illustriert
ISBN 84-933108-0-8 / Foto: Zech Verlag

Was in vielen historiographischen Werken nur in einem Satz erwähnt wird, war für die Eroberten, das Volk der Guanchen, der Zusammenbruch ihrer Welt und für die Sieger die Entdeckung einer neuen – auch wenn die meisten von ihnen das nicht zu würdigen wussten. Der dramatische Zusammenprall zweier Kulturen, der europäisch-katholischen und der weißafrikanisch-kanarischen, der mit der Einverleibung der herzförmigen Insel La Palma ins spanische Imperium enden sollte, bildet den Hintergrund für die Romanhandlung. Der Autor beginnt seine Erzählung mit einer Rückblende, in der einer der ältesten Guanchenkrieger dem jungen Bencomo, der Hauptfigur des Romans, vom ersten Invasionsversuch der Spanier unter Guillén Peraza berichtet. Damals konnten die Guanchen die spanischen Eindringlinge noch in der Schlucht der Todesängste besiegen. Aber der Alte warnt vor einer möglichen Rückkehr der Konquistadoren und bekanntlich sollte er Recht behalten.

Alonso Fernández de Lugo, der schon Gouverneur der soeben endgültig eroberten Insel Gran Canaria war, gelingt es, die Katholischen Könige Ferdinand und Isabela davon zu überzeugen, dass die Eroberung der restlichen Kanaren La Palma und Teneriffa ein gewinnbringendes Unternehmen sei. Originell ist die Ironie von Harald Braem, der König Ferdinand von Aragón Worte in den Mund legt, mit denen er sich über Kolumbus abfällig äußert, den er als Phantasten bezeichnet, dessen drei Schiffe wohl nie mehr aus dem Nirgendwo zurückkehren würden. Da war La Palma doch ein viel handfesteres Ziel mit kalkulierbarem Risiko.

So erscheinen die Schiffe der Konquistadoren um Alonso de Lugo in der Bucht von Tazacorte und fortan praktiziert der Autor einen geschickten Standortwechsel. Er verbirgt zwar nicht, dass seine Sympathien eindeutig auf der Seite der besiegten Guanchen liegen, aber seine Geschichte gewinnt an Glaubwürdigkeit und Spannung dadurch, dass er sie aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Zunächst beschreibt er den unerwarteten Anblick der spanischen Invasionsschiffe aus der Sicht der entsetzten Guanchen, die ahnen, dass dies das Ende ihrer kleinen freien Welt ist. Danach schildert er die ersten Eindrücke der Spanier von der exotischen Insel. Neben dem Anführer De Lugo baut er dabei die ihn begleitenden Missionare zu weiteren Hauptfiguren auf spanischer Seite auf. Dem fanatischen, von Inquisitionseifer und Kreuzzugsmentalität getriebenen Pater Innozenz stellt der Autor den idealistischen Pater Ángel und den unschuldigen jungen Mönch Domingo gegenüber. Domingo spürt immer stärkere Abscheu vor der Gewalt und zunehmenden Brutalität, mit der seine Spanier zum Beispiel nach der Schlacht bei den Mondbergen im Süden der Insel gegen die Besiegten vorgehen. Seine Zweifel machen ihn zum Gewissen der Konquistadoren, obwohl er kaum wagt, seine Verurteilung offen zu äußern – er vertraut sie nur seinem Tagebuch an. Der junge Mönch ist hin und her gerissen zwischen der Angst vor dem Unbekannten und der zaghafter Faszination für das rätselhaft Neue. Symbolisch wird dies angedeutet, als er widerstrebend eine Tonfigur der Erdgöttin Tara behält, obwohl dies als Ketzertum gilt.

Überhaupt gelingt es dem Autor Harald Braem, seine fundierten Kenntnisse über die Mythologie, Religion und Sitten der Ureinwohner von La Palma in die Handlung einzuflechten und diese Informationen spannend verpackt dem Leser zu vermitteln. So erfährt man nicht nur etwas über die Erdgöttin Tara, sondern auch über den Dämon aus dem Vulkankrater (Guayote), vor dem die Guanchen angstvoll erzittern, über die klosterähnlich lebenden Heilfrauen (Harimaguadas) und die zentrale kultische Bedeutung der inmitten des Riesenkraters aufragenden phallischen Felsnadel des Roque de Idafe, der von den Guanchen als Stütze des Himmels verehrt wurde und auch heute noch ein geheimnisvoller Ort ist. Zu den absoluten Höhepunkten des Romans gehört für mich die Beschreibung des Initiationsritus, an dem Mazo, der halbwüchsige Bruder von Bencomo, teilnimmt. Es ist eine Mutprobe, die ihn zum Krieger machen soll. Dabei werden die Gefühle Mazos, seine Grenzerfahrungen und die Todesangst während der lebensgefährlichen Bewährung mit fast mystischer Intensität beschrieben.

Wenn man die Protagonisten auf der Seite der Guanchen betrachtet, so ist es anfangs etwas irritierend für den Leser, dass der titelgebende Guanchenkönig Tanausú gar nicht die eigentliche Hauptfigur des Romans ist. Er spielt zunächst lediglich eine Nebenrolle, bevor er im letzten Drittel der Erzählung in den Mittelpunkt rückt, als er die Führerschaft der Guanchen im Zuge ihres letzten Aufbäumens gegen die spanischen Invasoren an sich reißt. Und als er schließlich nach der entscheidenden Niederlage (deren Schauplatz die Schlacht der Todesängste war) am Ende als Sklave an den Mast des Schiffes gekettet von Lugo gen Cádiz segelt, verkörpert er das ganze tragische Schicksal des Guanchenvolkes.

Harald Braem ist mit „Tanausú“ ein höchst empfehlenswerter historischer Roman gelungen. Wenn man ihm eines vorwerfen kann, dann vielleicht, dass er die Geschichte an einer besonders interessanten Stelle abrupt abbricht. Nämlich in dem Moment, als der Guanchenkrieger Bencomo, der als einer der wenigen den spanischen Sklavenjägern entkommen kann, den jungen spanischen Mönch bewusstlos neben dem Schlachtfeld findet. Wie diese Begegnung nun weiter geht, hätte man als Leser schon gerne gewusst. Aber das wäre wohl schon eine neue Geschichte.