Monserrate – auf dem heiligen Berg Kolumbiens

In den Wochen der Fastenzeit von Aschermittwoch bis Ostern wird er besonders eifrig bestiegen: der „Monserrate“, der heilige Berg im Zentrum Kolumbiens. In fast 3200 m Höhe thront der Gipfel mit der leuchtendweißen Kirche im Südosten über der Hauptstadt Bogotá. Zahlreiche Pilger bewältigen mühsam (und für irgendwelche Sünden büßend) zu Fuß den steilen Weg bis zur Kirche. Die weniger frommen, die einfach nur an Wochenenden die Aussicht genießen wollen, wählen die weitaus bequemere Alternative, um nach ganz oben zu kommen: die bonbonrote Drahtseilbahn (Funicular).

Dieses drollige Fortbewegungsmittel von 1929 wirkt auf den ersten Blick nicht sehr Vertrauen erweckend, doch alle versichern uns, dass es noch nie zu einem Betriebsunfall gekommen ist. Sobald der grellrote Waggon voll besetzt ist, in der Regel alle 20 Minuten, rumpelt das Gefährt den steilen Abhang des heiligen Berges hoch, begleitet von verdächtigen Geräuschen und angsteinflößendem Wackeln. Beim Blick in die Tiefe sehen wir uns schon mitsamt der tonnenschweren Kabine in den Abgrund stürzen. Doch es mag noch so knacken und knirschen in den Leitungen, nichts passiert.

Wir gleiten nach oben und links und rechts der Schneise beruhigt üppiges Grün die Augen. Die Bäume stehen bis dicht an die Leitungen. Schon beim Hinaufgleiten ist der Blick auf die tief unter uns liegenden Straßen von Bogotá und die immer kleiner werdenden Häuser spektakulär. Während der Fahrt stellen wir uns kurz vor, wie der Aufstieg zu Fuß wohl gewesen wäre, sind aber froh, diese gemütliche Variante gewählt zu haben.

Einmal auf dem Gipfel angekommen, bieten sich genug Gelegenheiten zu asketischer Buße oder sportlicher Betätigung. Doch zuerst muss man sich beim Treppensteigen an die dünne Höhenluft gewöhnen, die uns zwingt, alles langsam angehen zu lassen.

Die steinernen Skulpturen der Kreuzwegstationen, vor denen man besonders in den Wochen vor Ostern viele Betende sieht, sind zwar von unterschiedlichem künstlerischem Wert.Aber die romantische Lage der um Christus gruppierten Statuen begeistert ungläubige Besucher und gipfelstürmende Pilger gleichermaßen. Die ganze Anlage ist eine Kombination von sakralem Parcours und Botanischem Garten.

Jeder Station sind andere Pflanzenarten zugeordnet, die aus verschiedenen Regionen Kolumbiens stammen Alles ist vertreten von dickblättrigen, blassgrünen Wüstenblumen aus der Bergsteppe des Páramo bis zu dunklen Kiefern und Eukalyptusbäumen. Es ist faszinierend, hier in über 3000 Meter Höhe neben Bäumen zu stehen, die fast 30 Meter hoch sind, während in Europa in solcher Höhe kaum noch ein Blümchen wächst. Besonders prächtig sind die mit üppig gelben, lilienartigen Blüten übersäten Bäume, die den kuriosen Namen „Borrachero“ tragen.

Wir atmen keuchend beim Treppensteigen, arbeiten uns langsam bis zum höchsten Punkt des Berges vor und genießen die tausend verschiedenen Grüntöne der Bergwälder, die sich rechts vor uns ausbreiten. Dann schweift der Blick zum südlich gegenüberliegenden, noch 100 Meter höheren Guadalupe, dem anderen heiligen Berg über Bogotá, der ebenfalls gekrönt wird von einer kleinen Gipfelkirche. Guadalupe ist benannt nach dem Marienheiligtum in der spanischen Extremadura. Der „Monserrate“ ist dagegen die „hispanisierte“ Form des katalanischen Wallfahrtsortes Montserrat bei Barcelona – hier mit angehängtem „e“ zwecks leichterer Aussprache.Während wir im Gipfelgefühl die Aussicht auf die tief unter uns liegende Stadt und die umliegenden Berge genießen, wabern plötzlich dunkle Passatwolken am gegenüberliegen Guadalupe empor, hüllen den Gipfel ein und lassen es regnen. Erstaunlich schnell erreicht der Wolkennebel auch den Monserrate und nach ein paar Minuten stehen wir mittendrin. Sehr schnell verblassen alle Farben: wie ein Farbfoto, das man in Schwarzweiß ausdruckt, erscheint uns nun die Aussicht.

Die Grüns werden zu Grau und Schwarz, Bäume zu bizarren Schatten im Nebel, und bald sieht man gar nichts mehr.

Bevor der „horizontale Regen“ des Wolkennebels uns völlig durchnässt, flüchten wir in die Kirche. Dieses weiße Gotteshaus, Ziel zahlloser Pilger, wurde um 1650 erbaut, aber mehrfach unglücklich restauriert.Die Kirche ist erstaunlich schlicht und hat im Innern wenig Sehenswertes zu bieten – außer der alten Christusskulptur des „Señor Caído“ aus dem 16. Jahrhundert und einer wunderschönen Madonna neueren Datums.

Als wir die Iglesia del Señor Caído wieder verlassen, hat der Regen aufgehört und der Nebel lichtet sich. Durch den heller werdenden Grauschleier brechen jetzt Sonnenstrahlen und bringen die regennassen Avenidas und Hochhäuser von Bogotá zum Glänzen.

Bald ist die Sicht wieder frei. Der Aussichtpunkt des Monserrate bietet den hier oben Versammelten wieder ein völliges Kontrastprogramm: links, d.h. im Westen, erstreckt sich die graue Häuserwüste von Bogotá endlos bis zum Horizont und der Verkehrslärm der 7-Millionen-Metropole scheint aus der Tiefe hinaufzudringen. Im Osten dagegen empfängt totale Einsamkeit das Auge: unglaublich grün und wie eine Kulisse des Schweigens liegen die Bergwälder der östlichen Kordillere vor uns – und nicht ein einziges Haus ist auf dieser anderen Seite zu sehen. Man kommt fast in meditative Stimmung und verspürt den spontanen Drang, diese grün schimmernde Einsamkeit zu erkunden.

Doch wir befinden uns in Kolumbien und es ist Ausnahmezustand, man kann nicht einfach in entlegene Gebiete fahren. Die Vernunft holt uns zurück aus träumender Meditation, zurück aus der unwirklichen Atmosphäre des heiligen Bergs, auf dem die harte Realität Kolumbiens so fern scheint. Wir wenden uns wieder der anderen Seite zu, der grauen Wirklichkeit tief unter uns. Und doch wirken das hektische Gewusel und die ständig angespannte Situation der kolumbianischen Hauptstadt von der entrückten Höhe des Monserrate aus betrachtet friedlich und harmonisch. Und man möchte an diesem stillen Ort, neben der Kirche über den Wolken, ein spontanes Friedens-Gebet anstimmen für die Stadt unter uns – und den Rest der Welt.

Wir danken unseren kolumbianischen Mitarbeitern Angélica Peñuela und Dr. Jaime Urutia.