Kinder der Nacht

Bei Sonnenaufgang ist es in der Andenmetrople La Paz immer noch bitterlich kalt, von den Nächten ganz zu schweigen. Pablo, mein kleiner fünfjähriger Freund, hat die Nacht mit seinem großen Bruder Juan und seinem Vater im Freien verbracht. Meist schlafen sie unter einer der vielen Brücken oder in Hauseingängen. Die ehemalige Schlafgelegenheit vor den Eingängen der Kinos, wo sie mit anderen Straßenkindern vor und nach Beginn des Filmes um Süßigkeiten oder einen Peso betteln, wird seit neuestem von der Polizei heimgesucht. Denn schließlich wollen die Besucher nicht mit dem Elend der Straße konfrontiert werden.

Allein in La Paz leben 4000 Kinder und Jugendliche auf der Straße. Sie besitzen nicht viel, meist nur das, was sie am Körper tragen. Gegen die kalten Nächte schützen sie sich mit alten, feuchten Kartons, Zeitungen und der Wärme, die sie sich gegenseitig spenden. Neben der Kälte sind Ernährungsmangel und Krankheiten, vor allem Lungenentzündungen, an der Tagesordnung. Sie alle tragen Geschichten über Gewaltanwendung bis hin zum Missbrauch mit sich herum.

Eine soziale Bindung zu ihnen herzustellen, ist schwer, da das Misstrauen ihre einzige Überlebenschance ist. Zu oft wurden sie enttäuscht, die Kinder, die keine mehr sind.

Manchmal, wenn die Temperaturen zu eisig sind oder die Polizei ihr Nachtlager aufmischt, wagen sie sich zu den ortsansässigen Heimen und verbringen dort die Nacht. Meistens jedoch nur eine. Denn die Straße ist zu ihrer Heimat geworden; dort gibt es keine Regeln, die sie zu beachten hätten.

Manchmal kommen sie aber auch und wollen bleiben, um sich vom Leben auf der Straße zu trennen; obwohl ihnen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft schwer fällt. Schulausbildung und feste Zeiten spielen von nun an eine Rolle. Wer nicht zum Unterricht erscheint, wird mit Abwaschen oder Hofkehren, bei wiederholtem Fehlen mit Ausgehverbot bestraft. Weitaus problematischer ist jedoch der Versuch, die Jungs vom Schnüffeln zu befreien. In schwierigen Zeiten ist das Schnüffeln ihr einziger Halt. Durch die Droge, eine Art Terpentin, verlieren sie sich im Nichts; Hunger und Kälte sind vergessen. Doch führt das Schnüffeln in erster Linie zu Aggressionen gegen sich selbst oder andere. Rückfälle sind an der Tagesordnung. Es braucht nicht viel, um sie zurück zu den Drogen zu führen. Mal treffen sie einen alten Straßengenossen, mit dem sie sich sogleich berauschen, ein anderes Mal fühlen sie sich allein, missverstanden oder ungerecht behandelt.

Es ist ein seltsames Gefühl, einen Zehnjährigen nach Hause kommen zu sehen, der sich mehrere Schnittwunden an den Armen zugeführt hat, schreit („Quiero morir, quiero morir“), weint und sich am liebsten gleich den nächsten Schnitt verpassen möchte.

Ihren Lebensunterhalt verdienen die Kinder der Nacht meist mit Schuhputzen, andere dagegen verkaufen Süßigkeiten in den Omnibussen. Die Lustrabotas, die Schuhputzer, stellen in der sozialen Hierarchie die unterste Stufe dar: die Kinder vermummen sich, um abends in der Schule nicht von ihren Kameraden als solche erkannt zu werden.

Das Schuhe putzen ist jedoch gerade für die Jüngeren die einzige Möglichkeit überhaupt Geld zu verdienen.

Und selbst wenn sie dem Leben auf der Straße ein Ende bereitet haben, ist der Weg zur sozialen Anerkennung ein weiter beschwerlicher Gang. Bleibt Entwicklungshilfe an sich ein schwieriger Fall und nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, ist jeder noch so kurze Augenblick, in dem dir ein Straßenkind ein Kinderlächeln schenkt, mehr wert als alles andere.