Heiße Umarmungen

"Selbst dann, wenn man an einen unbekannten Ort gespült wird, Ankommen in Lateinamerika fühlt sich doch auch immer ein Stück weit so an, als würde man altbekanntes, ja geradezu geliebtes Terrain betreten. Eine Momentaufnahme aus Salvador da Bahía.

Mein Buch füllt sich mit der ersten Tinte. „Neues Büchlein, neue Gedanken und dann – ausgerechnet – entsteht die erste Seite in mi querido mi querido Brasil“, wie Kevin Johansen, mein geliebter und noch viel mehr verehrter argentinischer Singersongwriter zu singen pflegt. Und sie füllt sich tatsächlich, einfach so und ohne großes Zutun. Ich schreibe. Hinein in eine neue Dekade voller Irrsinn und menschlicher Abgründe. Wer das nicht glaubt, der sollte einfach mal nicht blind an den Zeitungskiosken vorbeigehen, sondern sich 15 Sekunden Zeit nehmen, um ein paar Überschriften zu lesen. Wer da nicht direkt an das Schlechte im Menschen glaubt, dem ist nicht mehr zu helfen.

Aber zurück zur Dekade. Denn die Zeilen fließen. Fern der Heimat – und irgendwie ist sie doch so nah. Geistig, seelisch, ein Herzensgemütszustand. Weil die Gerüche so vertraut sind während ich die Straße hinunterlaufe und der Schweiß ganz automatisch sich in mein frisches Hemd hineinfrisst. Wohlige Wärme. Noch. In zwei Tagen wird sie mich kurz einmal ärgern, mir tierisch auf den Sack gehen, weil sie einfach immer da sein wird. Minute um Minute, Stunde um Stunde, Tag um Tag und in der Nacht sowieso. Irgendwann aber, so nach fünf, vielleicht aber auch erst in zehn Tagen werde ich sie wie eine gute alte Freundin begrüßen und ihre täglichen Umarmungen mit Lust und Freude über mich ergehen lassen. Fortan wird sie mich auf Schritt und Tritt begleiten dürfen, wie das eben nur wirklich gute Freundinnen können und, ganz wichtig, auch tun dürfen. Bei Frühstück, im Café, am Strand, beim Abendessen und auch am Schreibtisch.

Der wiederum ist kein guter Freund, zumindest nicht im engeren Sinne. Eher ein Mittel zum Zweck. Nicht falsch verstehen, ich mag meinen Schreibtisch schon, aber gerade auf seinem Rücken versuche ich gewisse Dinge zu erledigen. Mitunter Kreatives, aber auch sehr viel Nonsens und das gerne über mehrere Stunden. Dann klebt der Unterarm auf dem Holz und hinterlässt schnell ein paar Schweißränder, wenn man nicht aufpasst und den Hemdsärmel nicht heruntergerollt hat. Mitunter gehen diese Ränder nur widerspenstig wieder raus, weiß der Teufel, warum. Wahrscheinlich liegt es am Konsum der hervorragenden Früchte und dem erhöhten Salzgehalt in der Luft. Vielleicht am Fleisch oder der guten, böse Menschen behaupten sogar manchmal „schlechten“, Luft. Lustig aber auch: dieser Wasserfluss scheint andere Lebewesen gerade zu anzuziehen. Durchsichtige Ameisen etwa, schnell und winzig, wuseln auf dem Tisch herum. Fliegen sowieso, manchmal auch Moskitos, wenn sie unter der „schlechten“ Luft nicht ihrer Lebensgrundlage ohnehin schon entzogen wurden (oder dem Klimawandel, den es ja gar nicht geben soll). Und dann hat es sich auch noch ein Gecko im Obstteller bequem gemacht. Zwischen Melonen, Maniok, Zucchini und ein paar, zugegebener Maßen sehr reifen Bananen scheint er sich sein Abendmenü zusammenstellen zu wollen.

In solchen Momenten spiele ich nicht nur mit dem Gedanken, ich gehe dann tatsächlich fremd. Wohlige Wärme in allen Ehren, aber nur einen Klick auf der Fernbedienung entfernt, schwupp, und schon kommt die Eisprinzessin. Von hinten küsst sie mich, trocken, aber eiskalt. Wohl deshalb ist der Flirt meist von sehr kurzer Dauer. Ein weiterer Klick, ein langsames Verstummen der ächzenden Klimaanlage und meine Freundin pirscht sich von vorne und mit ihren unbeirrbaren warmen, haarlosen Armen heran, deren Umarmungen ich mich nicht entziehen kann. Ich muss mich beeilen, atme tief ein und aus, nochmal und nochmal, ehe ich friedlich in den Schlaf hinübersegle. Meine Freundin und ich. Stille.