Fünf Stunden Schlaf

Ein gewöhnlicher Tag bricht an. Sie steht gegen halb sechs auf, weil der Kleine schreit. Seit ein paar Tagen fühlt er sich nicht wohl. Er hat Fieber und muss sich von Zeit zu Zeit übergeben. Sie hat ein hübsches Kind, wenn es auch nicht so ist, wie andere Kinder in seinem Alter. Nach einem alten argentinischen Helden nannte sie ihren Sohn damals. Es war jene Zeit, als sie noch glücklich mit ihrem Mann zusammen war.

mucamaAb und an kommt der Vater dort vorbei, wo die beiden jetzt wohnen. Finanzielle Unterstützung kann oder will er nicht leisten. Wahrscheinlich hat er genug damit zu tun, sich selbst über Wasser zu halten. Das Gesicht hat der Kleine von seinem Vater geerbt und einiges andere auch.

Die Augen sind groß, wenn sie nicht gerade geschwollen sind vom Weinen oder jetzt eben von der Krankheit. Die Nase ist noch klein, wie auch der Mund und das Kinn. Er geht auf seinen kleinen O-Beinen oder rutscht auf allen Vieren durch die Wohnung. Die Kleidung ist zerschlissen, aber es geht einigermaßen im Vergleich zu anderen Kindern, die man auf der Straße sieht. Reden mag der Kleine gar nicht und wenn er etwas von sich gibt, dann sind es nur Laute und keine wirklichen Wörter. Nur Namen scheint er sich gut einprägen zu können. Er ist zwei Jahre alt. Er scheint nachhaltig unter der Situation zu leiden. Die Mutter muss zusehen, dass sie genug Geld für sich und ihr Kind nach Hause bringt. Das geht nur mithilfe mehrerer Jobs. Zum einen hat sie das Haus Don Albertos zu putzen, zum anderen arbeitet sie in einem Hotel. Wenn sie arbeitet, kümmert sich eine Verwandte um das Kind, bis die Mutter gegen elf Uhr nachts nach Hause kommt. Ihr Blick ist trüb,  ausdruckslos und hat den Glanz früherer Tage verloren. Um die Augen haben sich dunkle Ränder gebildet und Falten prägen das eigentlich recht jugendliche Gesicht.

Die Nase ist flach; ebenso der Mund. Ihre Haare scheinen trotz aller widrigen Umständen immer frisch gewaschen zu sein, was man von ihrer Kleidung, zumindest zu Hause, nicht behaupten kann, obgleich sie nicht komplett zerschlissen ist. Die Hüfte ist ein wenig ausladend, wahrscheinlich ein Resultat der Geburt.

Wenn sie sich für die Arbeit im Hotel zurecht macht, kann man ihre Schönheit sehen, aber viel mehr noch ihre einstige Schönheit erahnen. Ihre Beine sind durch die tägliche Arbeit angeschwollen und es zeigen sich erste große Adern an den Waden. Mit diesem Körper steht sie also täglich gegen halb sechs Uhr morgens auf, nimmt ihren Sohn auf den Arm und geht in die Küche. Dort wird schnell ein wenig Milch aufgewärmt, ehe sie sich an das Putzen der Wohnung macht. Für einen Hungerlohn! Hier in der „Residencia“ wird gemunkelt, dass ihr Dueño Alberto nicht einmal das kleine Zimmer komplett ohne Bezahlung überlässt. Auf zwölf Quadratmetern lebt sie und schläft in einem Bett mit ihrem Sohn. Zwei Bäder, die Küche, ein Wohnzimmer und der Flur sind täglich zu reinigen. Nach Feierlichkeiten auch mal die Dachterrasse.

Ihr Sohn bereitet ihr Sorgen. Er hustet, ringt immer wieder nach Luft und sein kleiner Körper wirkt ausgezehrt. Beim Arzt war sie viel zu spät und er hat ihr nur ein paar Medikamente gegen allgemeine Grippe verschrieben. Diese gibt sie ihrem Sohn auch regelmäßig und hoffentlich wird sich bald eine Besserung einstellen. Sie macht einen verzweifelten Eindruck, auch wenn sie noch sehr viel Energie und Mut zu haben scheint. Das Schicksal ist manches Mal gnadenlos und von Gerechtigkeit sollte hier auch nicht gesprochen werden. Sie scheint überfordert mit der Erziehung ihres Sohnes, ihren beiden Arbeitsstellen und vielleicht mit ihrem gesamten Leben. Den Weg zu einer Behörde hat sie noch nicht auf sich genommen, um den Vater dazu zu bewegen, endlich auch Geld für das gemeinsame Kind aufzubringen. Dies ist allerdings der einzig wirkliche Vorwurf, den man ihr machen kann.

Es klingelt an der Tür. Es ist die Tagesmutter und es ist höchste Zeit für die Arbeit. Bis spät in die Nacht wird sie ihren Sohn nicht sehen können, aber es geht nun mal nicht anders. Scheinbar klaglos ergibt sie sich in ihr Schicksal. Wie jeden Tag. Wenn sie nach Hause kommt, dann beginnt das gleiche Spiel wie am Morgen. Sie wird ihren Sohn kurz in den Arm nehmen, anschließend in die Küche gehen und noch schnell etwas für ihn kochen. Viel steht ohnehin nicht auf dem Speiseplan. Nudeln oder gedünstetes Gemüse, nur selten Fleisch. Es scheint zum Überleben zu reichen und wahrscheinlich deckt es auch den Bedarf. Wenn der Kleine freudig mit seiner Mutter spielen will, bekommt er sehr oft ein Nein zu hören, weil sie komplett erschöpft ist. Die Wäsche sollte ja heute auch noch gewaschen werden und so lässt sie den Kleinen alleine essen, während sie auf die Terrasse geht und im Dunkeln versucht, die schmutzige Wäsche der Woche sauber zu bekommen. Sie packt die Wäsche in einen Eimer und füllt Wasser dazu. Bis diese eingeweicht ist, überbrückt sie die Zeit mit Putzarbeiten. Dann kehrt sie zurück und schrubbt jedes Kleidungsstück einzeln per Hand und hängt es auf die Leine. Den Müll hat heute ausnahmsweise ein anderer aus dem Haus gebracht. Ein schwacher Trost. In der Zwischenzeit ist es im Wohnraum laut geworden. Eine Gruppe von zehn Leuten hat sich versammelt, um den Abend ausklingen zu lassen. Als das letzte Klo geputzt ist, lässt auch sie sich matt auf einen Stuhl fallen, nimmt ein Glas von dem Rotwein und schließt die Augen. Die Musik die aus dem Wohnraum herüber dringt, macht sie auf eine seltsame Weise glücklich und sie versucht an etwas anderes als ihr Leben zu denken. Ihr Sohn sitzt auf ihrem Schoß, schmiegt sich an ihre kleine Brust und sie spürt seinen Atem. Es ist Mitternacht und allmählich wird es Zeit zu Bett zu gehen, auch wenn sie noch gerne weiter der Musik gelauscht hätte. Es bleiben nur etwa fünf Stunden, ehe sie wieder aufstehen wird. Fünf Stunden.