Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug I)

Eines Morgens im späten Dezember zog ich die Schlaufen meines Rucksacks zu, band mir eine Reisetasche um den Bauch und stieg in eine S-Bahn, deren Leuchtschrift „Flughafen München“ leise zitterte. Unablässig seilten sich an jenem Tag Schneeflocken vom dunkelgrauen Himmel ab und drückten sich ans Zugfenster, als seien wir Fahrgäste eine Attraktion. Auf den eisbedeckten Bürgersteigen bewegten sich Spaziergänger wie auf einem Hochseil, und die knapp fünfzigjährige Frau in bayerischer Tracht, die mir gegenübersaß, fragte, ob ich „mit so fuui Gpäck“ zum Skilaufen ginge. Weit gefehlt! Vielmehr war ich aufgebrochen, eine Region zu bereisen, die endlich die Abenteuer für mich bereithalten würde, nach denen ich schon so lange suchte.

die-gesichter-suedamerikasDie Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de

Kurz nach Mitternacht flog unsere Boeing eine scharfe Linkskurve und entlockte den Passagieren eine Reihe unverhältnismäßig lauter „Aahs“ und „Oohs“. Durch das vereiste Doppelglas des Flugzeugfensters sahen wir auf die argentinische Hauptstadt hinab: Ein Lichtermeer, akkurat zu Quadraten geordnet, erhellte die Nacht und zog sich wie ein gigantisches Willkommensspalier schachbrettförmig bis zum Horizont. Auf über einhundert Kilometern Länge schmiegt sich die Stadt an den Río de la Plata. Stellenweise ist sie bis zu vierzig Kilometer breit. Würde man sie nach Deutschland verlegen, nähme sie mehr Platz in Anspruch als das Saarland.

Buenos Aires. Allein der Name verspricht Exotik, entfacht Hunger auf Unbekanntes. Man muss ihn sich auf der Zunge zergehen lassen: B-u-e-n-o-s  A-i-r-e-s. Das klingt einfach gut. Bedeutsamer als beispielsweise „Düsseldorf“ oder „Bielefeld“.

Mit einem dezenten Quietschen öffnete sich die Schiebetür des Flughafens und entließ mich in eine Wartehalle, in der eine Armada braun gebrannter und leger gekleideter Argentinier mir zurief, ob mein Name Peter, Kurt oder Daniel sei. Zum Glück sah ich in diesem Moment über die Köpfe der Wartenden hinweg Ramón, der lässig an ein Werbeplakat lehnte, auf dem eine Badenixe vorgab, sich für Telefonkarten zu interessieren. Mit breitem Grinsen hob Ramón ein Pappschild in die Höhe, auf dem in krakeliger Schrift Señor Tomás stand. An seiner Seite hielt Josefina nach Blondschöpfen mit blauen Augen Ausschau.

Vor zwei Monaten hatte ich Josefina und Ramón im Internet kennengelernt. Zu dieser Zeit waren die beiden auf die Idee gekommen, ihre Wohnung im Zentrum von Buenos Aires zu einer kleinen Herberge umzugestalten.

Bienvenido en Argentina, lachte Josefina mir zu, während Ramón mir seine riesige Pranke entgegenstreckte, „unser Auto steht gleich um die Ecke“.

Als sich die Tür des Flughafengebäudes öffnete, war es, als prallte ich gegen eine unsichtbare Wand. Die Luft stand so dicht über dem davorliegenden Parkplatzgelände, als hätte sie jemand zusammengepresst, alle zehn Meter erhellt vom honigfarbenen Licht einer Straßenlaterne, in dem sich Moskitos und Glühwürmchen um die besten Plätze stritten.

„Heute hatten wir hier fast vierzig Grad“, ließ Josefina verlauten, als müsse sie sich für dieses Wetterphänomen entschuldigen, „die Sonneneinstrahlung ist in Buenos Aires ähnlich intensiv wie in der Sahara.“

Während der einstündigen Autofahrt – „wir wohnen ganz in der Nähe des Flughafens“ – konnte ich meine Gastgeber von der Rückbank aus genauer in Augenschein nehmen. Angesichts ihrer erst fünfundzwanzig Jahre verfügte Josefina über ein erstaunliches Ausmaß innerer Ruhe. Die Fahrmanöver ihres Freundes, dem es insbesondere gefiel, abrupt von der linken Spur auf die ganz rechte zu wechseln, dort zu überholen und sich anschließend haarscharf vor seinem Opfer auf die Mittelspur einzufädeln, quittierte sie mit einem gütigen Lächeln, als dächte sie, so sind die jungen Männer nun mal, in ein paar Jahren geht auch das vorbei.

Auch Ramón wirkte selbstsicher, war jedoch gleichzeitig mehr als Josefina darauf bedacht, Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn mich Josefina ansah, erkannte ich in ihrem Blick eine freundliche Neugier. In Ramóns Augen loderte dagegen eine unbändige Kraft, eine Lust, Grenzen zu überschreiten, die von Zeit zu Zeit hell entflammte. Die Leidenschaft stand ihm gut, sie korrespondierte perfekt mit seinem scharf geschnittenen, braun gebrannten Gesicht und seinem ausgeprägten Oberkörper, der von der schmalen Hüfte aufwärts zu zwei ausladenden, kunstvoll tätowierten Schultern führte. Ramón spielte Rugby in der Profiliga. Er trug einen kleinen gezwirbelten Zopf und hatte jeden Tag von neuem einen Bartansatz. Vermutlich verfügte er über einen Rasierer, der absichtlich immer einen Rest von Bart stehen ließ, weil das einfach besser aussah. Vor allem aber hatte es Ramón auf subtile Art geschafft, dass man ihm besonders gut zuhörte: Während Josefina auf der Fahrt den Hauptteil der Unterhaltung bestritt, warf er nur hie und da leise einen Satz ein, der dann allerdings unter Garantie verbindlich war, und den er grundsätzlich mit zwei hochgezogenen Augenbrauen ankündigte.

Josefina und Ramón ergänzten sich perfekt. Sie waren eines jener Paare, die so selbstverständlich zusammengehören, dass man sich kaum vorstellen konnte, dass es jemals anders gewesen sein könnte.

„Calle Serrano im Stadtteil Palermo, hier befindet sich unsere kleine Herberge“, verkündete mir Ramón kurz nach zwei Uhr nachts, was für ihn ein erstaunlich langer Satz war. Kurz darauf betrat ich ein geräumiges Zimmer, warf meinen Rucksack und meine Reisetasche in die Ecke und erkundete das Wandthermometer, das unerbittlich zweiunddreißig Grad Celsius anzeigte. Im Nachbarhaus probten Nachwuchsrocker, die verzweifelt versuchten, genau wie die Ramones zu klingen, Lieder in erstaunlicher Lautstärke ein. Erstaunlich vor allem, weil der Zeiger meiner Armbanduhr gerade lautlos auf halb drei vorgerückt war. Eine halbe Stunde später erkannte ich Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“ und um kurz nach vier wechselte die Band zu psychedelischen Pink-Floyd-Epen.

So sollte es von nun an jeden Abend sein. Was nicht weiter ins Gewicht fiel, da auf der Straße, die direkt unter meinem Fenster verlief, ohnehin das pralle Leben im Gang war: Rhythmische Sprechchöre wechselten sich mit den Böllern eines verfrühten Feuerwerks ab und alle paar Minuten ratterte ein uralter Bus die Straße Richtung Zentrum entlang.

München erschien mir auf einmal als ein beschauliches Dorf. Jetzt war ich hingegen in eine echte Großstadt gekommen. So dachte ich, als ich gegen halb fünf Uhr in der Früh einschlief.

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Land der Schmerzen und der Lebensfreude
Als ich wenige Stunden später aufstand, blieben die Umrisse meines Körpers, aus Schweiß gezeichnet, im Bett liegen. Die Temperatur war auf achtunddreißig Grad gestiegen. Buenos Aires hielt ein Gewitter aus Eindrücken für mich bereit, sobald ich zur Tür meiner Pension hinausging. Genau das hatte ich von dieser Stadt erwartet.

Seit meinem zweimonatigen Ecuador-Aufenthalt vor drei Jahren war mir klar gewesen, dass ich nach Südamerika zurückkehren würde. Vielleicht lag es an der besonderen Mischung aus Weltschmerz und Lebensfreude, die auf diesem Subkontinent zu Hause ist.

„Saudate“ nennen Brasilianer diese Mischung, die zum Beispiel zum Ausdruck kommt, wenn Männer in heiterer Runde nach einigen Gläsern todtraurige Lieder über sich niemals erfüllende Liebessehnsüchte anstimmen. Der weit gereiste spanisch-französische Sänger Manu Chao bezeichnet diese Art des Galgenhumors, die er in den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas antraf, als malegria – ein Wortspiel, gebildet aus dem spanischen „alegria“ (Freude), das durch das vorangestellte „m“ das französische Wort „mal“ (Unglück) umfasst. malegria ist das Unglück in der Freude, die Freude im Unglück. malegria ist nach Manu Chao „eine unerklärliche Trauer, die mit einem Lächeln bekämpft wird.“ malegria setzt Temperament und Leidenschaft voraus, ein bisschen Unvernunft auch, zumindest aber die Fähigkeit zu großen Gefühlen. In vielen südamerikanischen Werken – sei es in den Büchern des chilenischen Bestsellerautors Antonio Skármeta oder im Erfolgsfilm „Amores Perros“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro Gonzáles Iñáritu – kommt das Zusammentreffen von Triumph und Trauer, von Überschwang und Überdruss zum Ausdruck. Schon immer zog mich diese Lebenseinstellung in ihren Bann.

Doch mehr noch: Südamerika ist noch immer zu entdecken. Was ich abseits ausgetretener Touristenpfade vorfinden sollte, sprengte die Dimensionen dessen, was ich bisher kannte. Endlose ockerfarbene Halbwüsten, über die der Wind Staubkörner jagt. Extreme Höhenunterschiede mit radikalen Klimawechseln innerhalb weniger Stunden. Megastädte, wie sie in Europa nicht existieren. Für mich kam das alles einer Verheißung gleich. Zum Leidwesen meiner Eltern hatte ich bereits in jungen Jahren eine starke Neigung entwickelt, Unbekanntes zu erforschen, Gegebenes zu hinterfragen und Lebensentwürfe zu vergleichen, indem ich durch immer neue Länder reiste. Auf diesem vom Massentourismus links liegen gelassenen und darum weitgehend unverfälschten Subkontinent, so ahnte ich, konnte sich meine Abenteuerlust zum ersten Mal satt essen.

Noch etwas Anderes zog mich in diese Region, die sich so sanft an die westliche Flanke des Atlantiks schmiegt und die so abrupt zur östlichen Seite des Pazifiks hin abfällt. So angenehm es für mich war, in stabilen Verhältnissen zu leben, so reizvoll war es, durch Länder zu reisen, in denen es grundsätzliche politische Alternativen gab. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass alle richtungsweisenden politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen in Europa vor langer Zeit getroffen worden sind. Während ein beliebiges Land in Europa in fünf Jahren vermutlich noch immer demokratisch organisiert, wirtschaftlich erfolgreich und gesellschaftlich solide sein wird, weiß niemand, ob sich in einem beliebigen südamerikanischen Land nicht im selben Zeitraum irgendeine Militärjunta an die Macht putscht, ob nicht irgendwo nahezu unermessliche Bodenschätze gefunden werden, oder ob die indígenas, die Ureinwohner, nicht irgendwo einen Aufstand gegen die weiße Oberschicht planen.

Eine Mischung aus diesen Gründen hatte dafür gesorgt, dass ich mich nun durch die Straßen der argentinischen Hauptstadt treiben ließ, ohne Stadtplan, da es nirgendwo einen gab, um Ecken biegend, die mir aus unerfindlichen Gründen interessanter erschienen als andere, umgeben von einer afrikanisch anmutenden Glut, die manchmal von Windstößen aufgewirbelt wurde und in die Gesichter der Passanten fuhr, als bestünde die Luft aus unzähligen Funken. Wer einen solchen Funkenstoß abbekam, floh alsbald in die nächstgelegene klimatisierte Bar, bestellte ein kühlendes Getränk und begann, lautstark mit den anderen Gästen zu diskutieren.

Man kann sich Buenos Aires als riesiges Jugendzentrum vorstellen: lärmend, chaotisch, heißblütig und voller Kultur. Fast alles in dieser Stadt ist darauf ausgerichtet, laut zu sein. Die Untergrundbahn subte klingt beim Einfahren in eine Station wie ein Düsenjet. Fünfzehntausend schrottreife Stadtbusse scheppern täglich durch die Straßen und ziehen schwarze Abgaswolken hinter sich her. Gestenreich schreien sich Passanten über die Straße hinweg Satzfetzen zu und aus den Läden und Cafés dröhnt bis zum Anschlag aufgedrehte Musik.

La-Boca

Bruna Montserrat erklärt mir ihre Stadt
Das waren die Bedingungen, als ich mich auf den Weg zum größten Einkaufszentrum der Stadt machte. In der dortigen Touristeninformation arbeitete Bruna Montserrat, eine Freundin meiner Gastgeber. Bisher hatte ich grundsätzlich einen Bogen um solche Informationseinrichtungen gemacht, weil ich dort in aller Regel an Orte geschickt wurde, an denen der Charakter eines Landes, einer Stadt, gerade nicht zum Ausdruck kam. Bruna war jedoch bei meinem Anruf ein Satz entfahren, der in meinen Gedanken widerhallte.

Voy a ayudarte a leer la ciudad, „ich werde Dir helfen, die Stadt zu lesen“. Ein Satz, so leichtfüßig, so beiläufig poetisch und voll schroffer Eleganz, wie er nur im Spanischen sein kann.

„Bist Du etwa zu Fuß hierher gekommen?“, begrüßte sie mich  und entblößte eine Zahnspange, die sie seltsam verjüngte. Vor kurzem war sie neunundzwanzig geworden.

„Ja, aber das war kein Problem“, schmunzelte ich, „ich musste nur eine halbe Stunde lang die Calle Serrano entlanggehen bis zum Botanischen Garten und dann der Avenida del Libertador knapp anderthalb Stunden abwärts folgen, von der Hausnummer siebentausend bis zur Nummer sechshundert, um das Einkaufszentrum zu erreichen.“

„Dabei hast Du nur einen winzigen Ausschnitt unserer Stadt gesehen. Buenos Aires hat viele solcher sechsspuriger Alleen, die kilometerlang an einer Armada hochgeschossener Häuser und langgezogener Parkanlagen vorbeiführen. Manche davon – wie die 9 de Julio – sind bis zu einhundertvierzig Meter breit.“

Bruna verzog das Gesicht, als sei schon die Vorstellung, eine derartige Straße überqueren zu müssen, unzumutbar, geschweige denn, tatsächlich an einer solchen entlangzulaufen.
„Eure Hauptstadt ist schwer zu fassen“, gab ich zu. „Sie hat kein klar definiertes Zentrum. Doch was ich bisher gesehen habe, hat mir gefallen. Manche Städte drängen einem ihre Reize auf. Mit ihren Sehenswürdigkeiten, ihren touristischen Wegweisern und ihrer Flut an Infozetteln wirken sie so künstlich emporgehoben – als hätten sie zu viel Schminke aufgelegt. Aber Buenos Aires verbiegt sich nicht, es preist sich nicht an. Es ist einfach nur da und überlässt uns die Entscheidung, wie wir es entdecken wollen.“
„So habe ich das noch nicht gesehen“, erwiderte Bruna, „eigentlich schimpfe ich ziemlich viel über diese Stadt.“

Ich konnte förmlich hören, wie sie in Gedanken hinzufügte: „Diese Europäer! Das sind dort wohl alles Hobbyphilosophen.“ Daher beschloss ich, genau auf diese Weise fortzufahren.
„Ich hoffe, dass ich die Unübersichtlichkeit von Buenos Aires in den Griff bekomme, wenn ich die Stadt erst erforscht habe. Denn ich glaube, dass Buenos Aires, wie andere Weltstädte auch, in Wahrheit ein Scheinriese ist, der kleiner und harmloser wird, je besser man ihn kennt.“

„Ja, Buenos Aires ist groß“, seufzte Bruna daraufhin und es klang, als spräche sie von einer Krankheit. „Seit Jahren wächst unsere Stadt unkontrolliert nach allen Seiten wie ein Luftballon, den ein grausamer Clown aufbläst. Buenos Aires saugt ganz Argentinien leer: Von überall strömen Menschen hierher, als sei ein Stöpsel gezogen worden. Die meisten bleiben in den Außenbezirken hängen. An den Rändern des Molochs sammeln sich alle, für die in der Stadt kein Platz ist. Die Verlierer und die Gestrandeten. Gestolpert über eine verlorene Liebe vielleicht, von einem Ladendiebstahl zu Fall gebracht oder von den Eltern zum Arbeiten auf die Straßen geschickt.“
Zwei Falten waren auf Brunas Stirn erschienen. Überhaupt verhielt sich meine Gastgeberin erstaunlich für jemanden, der einem gerade die eigene Stadt schmackhaft machen will. In diesem Augenblick beschloss ich, Bruna gern zu haben.

„Weiß Du, der Sohn meines Onkels ist so ein Fall“, fuhr sie fort, „er heißt Juán und wollte seit seiner Kindheit in einer Autofirma arbeiten. Stattdessen reist er jeden Morgen mit zigtausend Anderen in die Stadt, um vor wartenden Autos an Ampeln zu jonglieren und Menschen in Anzügen die Schuhe zu putzen. Diese Stadt hat seltsame Berufe geschaffen. Den paseador de perros zum Beispiel, den „Hundespaziergänger“, der manchmal ein Dutzend Hunde gleichzeitig Gassi führt. Oder den Altpapiersammler, der seinen schweren, flachen Wagen vor sich herschiebt. Im Laufe der Zeit hat sich ein schmutziger Ring aus Wellblechhütten und Adobehäusern um Buenos Aires gelegt. Wie gesagt, ich schimpfe viel über diese Stadt.“ Wieder zeigte mir Bruna ihre verjüngende Zahnspange. „Doch eigentlich lebe ich gerne hier. Was ist Dir auf dem Weg hierher noch aufgefallen?“
Bruna schob ihre Augenbrauen ein Stockwerk höher. Vielleicht gefiel ihr ja, was der junge Hobbyphilosoph da von sich gab.

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„Ich war schon gestern, gleich nach meiner Ankunft, erstaunt, wie jung hier alles ist. Weißt Du, viele Städte in Europa sind geprägt von einer erfahrungssatten Schwere. Sie tragen so viel Geschichte mit sich, dass sie sich kaum noch bewegen können. Buenos Aires aber zuckt und windet sich im Hier und Jetzt. Es bebt, flimmert und vibriert rund um die Uhr. Die Jugend gibt ganz selbstverständlich den Ton an: Die küssenden Pärchen auf den Straßen, die heißen Blicke der Männer, die Diskos, die um drei Uhr nachts erst öffnen – das alles ist viel ausgeprägter als bei uns. Vielleicht verhält es sich mit den Charakteren ja wie mit den Polizeisirenen. Während sich die Einsatzwägen in Europa mit einem verlässlichen „tatü tata“ nähern, rasen die Polizeibusse hier mit dieser typisch amerikanischen Sirene durch die Stadt, die immer gleich nach einem Großbrand klingt. Der Ton schwingt sich dabei immer höher, bis sich alle Umstehenden die Ohren zuhalten und dann zerfällt er in tausend Einzeltöne, die die Sirene stakkatoartig um sich spritzt.“
Ich hielt mir die Ohren zu und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Bruna kicherte hell auf und schüttelte gleichzeitig ungläubig den Kopf, wodurch ihr die schwarzen Locken abwechselnd von links und rechts ins Gesicht fielen.

„Verstehe, dann ist unsere Stadt also etwas, das Dir die Ohren vollheult, bis Du es kaum noch erträgst und Dich anschließend mit schrillen Tönen bekleckert. Klingt nach einer ziemlichen Schreckschraube, wenn Du mich fragst! Aber ich kann schon verstehen, dass Buenos Aires beim ersten Blick auf Euch Europäer wie das pure Chaos wirkt. Du wirst zwar nirgendwo in Südamerika so viel Europäisches finden wie hier – viele unserer Nachbarn behaupten sogar, Buenos Aires habe sich mit dem Rücken zum Subkontinent gestellt und habe nur noch Augen für Europa. Aber es ist eben trotzdem eine durch und durch südamerikanische Metropole: Zweckmäßig angelegt, ohne viel touristischen Firlefanz, laut, stickig – und unglaublich aufregend.“
Plötzlich war Bruna leidenschaftlich geworden. Ihr Zeigefinger fuchtelte vor meinem Gesicht durch die Luft und auf einmal wurde mir klar, wie eng sie mit dieser Stadt verbunden war. Wie sie hier geliebt und gehasst, gekämpft und sich irgendwie durchgeschlagen haben musste.

„Wahrscheinlich kann man Buenos Aires als Ganzes ohnehin nicht beschreiben“, gab ich zu, „das liegt schon daran, dass es sich bei Sonnenuntergang schlafen legt und eine zweite, völlig andere Stadt erwacht. Nirgendwo sonst habe ich einen derart intensiven täglichen Stimmungswechsel miterlebt. Die Arbeiter fahren zurück in die Vororte, die Jugend strömt aus den Häusern wie anderswo auch, doch all das geschieht hier mit einer Radikalität, als hätte jemand kurzerhand die Bevölkerung ausgetauscht.“
„Richtig, und dann beginnen die Kinoreklamen zu funkeln und die Animierlokale zu leuchten und irgendwo auf Deinem Heimweg wirst Du in jedem Fall angesprochen“, bestätigte Bruna und auch ihr Gesicht begann zu leuchten. „Buenos Aires es diversión, hombre!, „Buenos Aires ist Vergnügen!“, lachte sie.
Así es, carajo!, „so ist es, verdammt noch mal!“, gab ich zum Besten.

Wie die Spanier pflegen auch die Argentinier Dinge, die ihnen am Herzen liegen, durch solche Anhängsel zu betonen – besonders wenn sie gerade sehr glücklich oder sehr zornig sind. Schon immer hat mir diese gefühlsbetonte Art der Konversation gefallen, weil die Sätze auf diese Weise zusammen mit dem Inhalt immer auch gleich die Stimmungslage des Gegenübers transportieren. In der Regel finde ich das außerordentlich praktisch. Zudem machte mein Spanisch hier wirklich große Fortschritte. Estoy perdido („Ich habe mich verirrt“), und ¿dónde estamos? („Wo sind wir hier?“) gingen mir schon nach wenigen Stunden akzentfrei von den Lippen.

„Buenos Aires ist darüber hinaus die ungekrönte Tattoo-Hauptstadt.“, fuhr Bruna fort und deutete mit dem Finger auf meinen Nacken. „Du hast ja bereits die richtigen Maßnahmen ergriffen, um Dich anzupassen. Überall in der Stadt wirst Du auf Delfine, Schmetterlinge und spanische Schriftzüge auf Schultern und Armen stoßen. Die Frauen tragen außerdem gerne karibische Muster im Kreuz, die Männer haben gotische Zeichen und argentinische Parolen im Nacken. Wenn Dir diese nach Abenteuern riechende Stimmung gefällt, empfehle ich Dir außerdem, nach Mendoza zu fahren.“

Damit hatte Bruna zum ersten Mal ausgesprochen, was ich in den kommenden Tagen immer wieder zu hören bekommen sollte. „Dann fahr’ nach Mendoza“, von Argentiniern mit verheißungsvollem Unterton ausgesprochen, von Rucksackreisenden mit einem wissenden Lächeln weitergegeben, sollte auf meiner weiteren Reise zu einer Art Mantra werden, zu einem Glaubensbekenntnis, das ständig wiederholt wurde.

Bruna war jetzt endgültig in ihrem Element. Sie fütterte mich ununterbrochen mit Informationen und fügte nach jedem dritten Satz ihr hombre! ein. Ihr Minenspiel war fantastisch: Ihre Augenbrauen hüpften vor meinem Gesicht auf und ab wie zwei Trampolinspringer, ihre Stirn kräuselte sich von Zeit zu Zeit wie die Oberfläche eines Sees, ihre Augen blitzten immer häufiger durch den Vorhang aus Locken hindurch und manchmal war ihr Gesicht ein einziges Ausrufezeichen. Gerne hätte ich die Ausdrucksstärke dieses Energiebündels länger genossen, doch Bruna musste zum Zug; sie fuhr heute für zwei Wochen in Urlaub. Als ich mich zum Abschied bei ihr bedanken wollte, legte sie ihren Finger auf die Lippen und schüttelte energisch den Kopf.

„Weißt Du, für uns liegt es auf der Hand, dass wir unseren Gästen helfen, sich bei uns zurechtzufinden“, betonte sie, während sie sich eine angsteinflößend große Reisetasche über die Schulter warf. „Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir nicht an den Massentourismus gewöhnt sind wie ihr in Europa. Noch nicht!“

Zum letzten Mal schenkte mir Bruna ihre hochgezogenen Augenbrauen. Im nächsten Moment war sie hinter der nächsten Ecke verschwunden.
Ihr „noch nicht!“ hallte eine Weile in meinen Ohren nach. Noch war Buenos Aires ein Geheimtipp, doch bereits jetzt wurden die Flüge hierher immer günstiger, lockten Tango, Lebenskunst und die kulturelle Vielfalt immer mehr Gäste in die Stadt.Wie wird die Avenida del Libertador wohl in zwanzig Jahren aussehen? Werden amerikanische Imbissketten und italienische Pizzalieferanten das Stadtbild übernommen haben und Touristen zehnmal höhere Preise für ein Eis bezahlen als heute – immer auf der Suche nach einer Authentizität, die sich dann ängstlich zurückgezogen haben wird?

Teil II: Vom Fluss verschluckt