Barocke Liturgie und deutsche Siedler (09/2017)

Anlass für diesen Sammelband zum Thema „Kunstmusik-Kolonialismus-Lateinamerika“ waren eine gleichnamige Ringvorlesung an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock sowie der Besuch einer Gruppe von Musikern aus Brasilien im Jahr 2015, die gemeinsam mit Studierenden dieser Hochschule liturgische Musik aus dem Bundesstaat Minas Gerais aufführten.

Barbara Alge (Hrsg.).
Kunstmusik-Kolonialismus-Lateinamerika
Verlag: Die Blaue Eule
Essen 2017
Seiten: 182.

Im Vorwort beschreibt Barbara Alge, Professorin für Ethno-Musikologie, wie nach einer Aufführung brasilianischer Chorsänger und Musiker mit deutschen Musikern interkulturelle Missverständnisse zu Tage traten: Die liturgische Musik, die auf in Minas Gerais gefundenen Partituren basiert, unterscheidet sich nicht sehr von europäischer Kunstmusik jener Zeit (18. Jahrhundert). Dennoch wurde der Vortrag der Brasilianer in Rostock zum Teil als exotisch wahrgenommen. Die Deutschen änderten Noten in den Partituren des Komponisten Lobo de Mesquita, um Dissonanzen zu vermeiden, die die Brasilianer wiederum gerade als spannungsgeladen empfanden. Außerdem sind die Orchester in Brasilien nicht so standardisiert wie in Deutschland und die Aufführungspraxis liturgischer Kolonialmusik in einer Kirche in Minas Gerais ist eine andere als auf einer deutschen Bühne: Glauben ausdrückende und identitätsstiftende Umgangsmusik wird zur Darbietungsmusik. Diese u.a. Unterschiede führten dazu, dass das deutsche Publikum die Vorstellungen eben als „exotisch“ empfand. Erklärungen zu diesem Missverständnis bieten dann einige der folgenden Texte, die sich mit den Partituren, z.B. aus dem Dorf Morro Vermelho in Minas Gerais, beschäftigen. Es wird u.a. die Frage aufgeworfen, welche Aufführungspraxis für diese Musik angemessen ist: die heutige in Brasilien oder diejenige, die sich auf europäische Modelle des 18. Jahrhunderts bezieht?

Barbara Alge ist es auch, die in ihrer Einleitung einen kurzen Überblick zur Geschichte der liturgischen Musik in Lateinamerika gibt, die natürlich von europäischen Kapellmeistern in Mexiko-Stadt, Lima oder Bogotá geprägt wurde, mit ihren Vorlieben für Werke von spanischen oder italienischen Komponisten. Auch hier kommt wieder die Aufführungspraxis zur Sprache, in der nach Meinung einiger Musikwissenschaftler das eigentlich „barocke“ der liturgischen Musik aus Minas Gerais liegt: dramatische Aufführungen und prunkvolle Feiern in mit Gold überladenen Kirchen. In den beiden wichtigsten Zentren für liturgische Musik, der Escuela de chacao (Venezuela) und der Escola Mineira in Brasilien, durften auch mulatos Musik machen und komponieren, ein wichtiger Aspekt in der Musikvermittlung. Und sie taten es mit größerer Freiheit, da sie nicht den Regeln der Europäer unterworfen waren, und entwickelten so einen einzigartigen Stil, der auch afrikanische Elemente enthielt. Aufgrund der steigenden Nachfrage in den prosperierenden Minen-Städten stieg die Zahl der mulato-Sänger, -Musiker und -Komponisten an, so dass bald eine eigene Klasse entstand. Drei Texte befassen sich denn auch mit der Geschichte, Entwicklung und Verbreitung der (afrikanischen) Tänze chacona und lundu (inkl. der dazugehörigen Musik).

Eine – wenn nicht die wichtigste – Rolle für das Musikleben jener Zeit spielten die Jesuiten, die in ihren Reduktionen die indígenas auch in Musik unterrichteten, wie Marcus Holler in seinem Beitrag berichtet. Die Kontaktaufnahme der Mönche erfolgte über die indigenen Kinder, die mit Musik zu begeistern waren. Die Jesuiten übersetzten auch viele (Lied)Texte ins Guaraní und andere indigene Sprachen, und sorgten so dafür, dass durch diese Musikausbildung der indigenen Bevölkerung sich europäische und indigene Musikpraktiken vermischten, ein bis heute wichtiger Einfluss. Außerdem bilden ihre Musikdokumentation die einzige Quelle zu diesem Thema vor dem Jahr 1759.

Zum Schluss befasst sich ein Beitrag mit den deutschen Einwanderern im brasilianischen Bundesstaat Santa Catarina. Ihre Migrationsgeschichte ist bereits breit erforscht worden, ihr kultureller Einfluss ist ebenfalls Gegenstand einiger Forschungsprojekte, aber im Bereich der Musik ist es vor allem die Volksmusik, die dort behandelt wird, da sie in vielen Gemeinden immer noch gepflegt wird. Kunstmusikalische Aktivitäten, wie sie Christian Storch versucht in den Mittelpunkt zu stellen, wurden bisher kaum erforscht. Die Deutschen kamen in Gebiete, die schon zu einem anderen Staat gehörten, waren also keine Eroberer. Und Brasilien war – auch musikalisch – bis 1889 stark von Portugal abhängig bzw. geprägt, trotz großer Einwanderergruppen aus Italien, Japan und eben dem deutschsprachigen Raum. Die Einwanderer bildeten kulturell nahezu geschlossene Gruppen: Je größer ihre Siedlungen wurden, desto vielfältiger entwickelte sich das kulturelle und Vereinsleben, das (Männer)Gesangsvereine, Laienmusikgruppen und Theaterkompanien umfasste. Bei den Gesangsvereinen lag der Schwerpunkt auf volksmusikalischen Gesängen, wie aufgefundene Liederbücher belegen. Aber auch Storch muss eingestehen, dass die Forschungen erst am Beginn stehen, weswegen man als Leser dieses Textes mit einer Mischung aus Neugier und Frustration zurückbleibt.

Dieser Sammelband ist vor allem für Musikwissenschaftler interessant, aber auch für Interessierte an der Kulturgeschichte Brasiliens, in die er einige neue Einblicke eröffnet.

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